Länderboten

Länderboten

Imaginäres Parlament

Klingspormuseum Offenbach, 2013

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Anny Öztürk, Sibel Öztürk, Heiner Blum

Offenbach ist die internationalste Stadt der Republik. Hier wohnen Menschen aus 156 Nationen. Insgesamt gibt es 193 anerkannte Staaten weltweit.

Mit dem Projekt Länderboten geben die Künstler Anny Öztürk, Sibel Öztürk und Heiner Blum einer Bürgerin oder einem Bürger jeder der hier vertretenen Nationen eine Stimme und schaffen somit ein imaginäres Parlament.

Die Grundlage dazu bilden Gespräche und Interviews, in denen Bürgerinnen und Bürger Statements und Utopien formulieren, die von den Künstlern in grafischer Form umgesetzt werden. Für die Zeit zwischen dem 3. Dezember 2013 und dem 2. März 2014 versammelt sich das Plenum der Botschaften und Bilder in einer Ausstellung im Offenbacher Klingspor-Museum. In Postergröße ausgedruckt, bedecken die Portraits und Grafiken die Innenwände des Museums und bilden so die vielgestaltige Stimme einer internationalen Stadt.

Es wurden bereits 111 Länderboten gefunden. Für die Dauer der Ausstellung wurden Boten aus den verbleibenden Ländern gesucht, die dann im Klingspor-Museum von den Künstlern interviewt und portraitiert wurden.

Länderboten ist ein Projekt zum Büchner-Jahr 2013 im Auftrag des Amts für Kulturmanagement der Stadt Offenbach.

 

Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Heimatkunde, Jüdisches Museum berlin, 2011

 

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Das Leben, das Universum und der ganze Rest
Eine Installation von Anny und Sibel Öztürk


Betritt man den lang gestreckten Raum des Jüdischen Museums so sieht man sich mit einer Phototapete konfrontiert, die sich bei näherem Hinsehen um die Darstellung von einem Ausblick auf etwas Galaktisches erweist.
Davor, wie abgestellt, locker an die Wand gelehnt befinden sich an Latten genagelte Pappschilder auf denen sich mit  Schrift farbig übermalte s/w Photokopien befinden. Diese Objekte erinnern an Schilder, wie sie bei Protesten und Demonstrationszügen zur schriftlichen Formulierung öffentlicher Meinungsbekenntnisse mitgeführt werden. In diesem Fall jedoch sind bekannte Sprüche zu hören, die sich als Gemeinplätze von Protestkultur  in der kollektiven Erinnerung der letzten 40, 50 Jahre erhalten haben. Sie erscheinen jedoch auf Photos, die zumeist wiederum Demonstrationen zeigen, zu den Sprüchen jedoch in keinem unmittelbarem , oder vielmehr einem ironisch konterkarierendem Zusammenhang stehen. Aber es hat mit der Verfügbarkeit von Bildern und Sprüchen zu tun, mit dem Hang auch in den politischen Gegenkonzepten , in dem Aufbegehren der Individuen immer das Vertraute, den Standard zu suchen, dass, was man als eine möglichst große Gemeinschaft dauerhaft miteinander teilen kann.

Auf der gegenüberliegenden Wand eröffnet eine s/w gehaltene Phototapete ein großes Zeitachsen Panorama, das vom Jahr 1989 zurück ins Jahr 1969 führt. Jedes Jahr wird mit einem Hauptmotiv markiert und durch eine Vielzahl kleinformatiger Bilder angereichert. Politik, Gesellschaft, Musik und Weltgeschehen. Vor diesem vielteiligen  Bilderpanorama erscheinen Gemälde und Zeichnungen der Künstlerinnen, die ihre eigene Geschichte als Familiengeschichte erzählen.

Das „Handschriftliche“ der Malerei und der Zeichnungen markieren das Private dieser Bilder ebenso, wie das im Einzelnen Dargestellte, was sich dem Betrachter in Unkenntnis der Untiefen Öztürkischer Familiengeschichte nicht als eine im Detail nachvollziehbare Geschichte erchließt. Es wird erkennbar als individuelles Familienepos, dem das Zeitgeschehen Hintergrundrauchen ist. Im Privaten sind es die kleinen, wenig spektakulären Ereignisse, die Geschichte schreiben und bestimmen. Und doch haben auch diese Bilder eine Wiedererkennbarkeit, weil Jeder vor dem Hintergrund der großen allgemeinen Geschichte seine eigene kleine Geschichte im privaten erlebt hat und die Öztürkschen Einlassungen jederzeit durch eigene Bilderinnerungen ersetzen könnte. Auch das Private und Individuelle ist Allgemeingut und gemeinsamer Erlebnishintergrund. Schließlich ist auch der Bilderteppich, der viel bekanntes Material aus dem kollektiven Bilderfundus herbeizitiert eine äußerst subjektive Angelegenheit. Ein jeder wird für die in Frage stehende Jahre eine Vielzahl anderer Bilder und Ereignisse vor den hier gezeigten den Vorrang geben und sie als fehlend ansehen.

Photos: Jens Ziehe

Photos: Jens Ziehe

Die Installation betont aber noch eine weitere Ebene. Die privaten Bilder handeln vom Herkommen aus der Türkei und einem Ankommen und Dasein in Deutschland, was wiederum ein eigenes Herkommen formuliert. Dem deutschen Betrachter wird vieles in den Familienbilder als das wohlvertraute Fremde erscheinen. Das Fremde, dass in dieses Land gehört und dessen Identität bestimmt. Aber es bleibt das „Andere“.

Die nackten Glühbirnen zitieren innerhalb der westlichen Kunst eine wichtige Darstellungsfloskel für das Archiv, das Archivarischen den Umgang mit Erinnerungsbildern als eine kleine Hommage an Christian Boltanski, den Meister dieser Themen. Aber für die Glühbirnen gibt es auch noch ein anderes bild, die Erinnerung an türkische Märkte auf denen eine Vielzahl solcher Birnen als Lichterketten in mitunter höchst poetischen Installationen das Treiben und Handeln erhellen. Ausserdem stehen sie für die 8 Planeten unserer Sonnensystems.

Die Bilder, wenn man sich auf ihre Herkunft als Erinnerungsinventar einläßt zeigen viele Bezugnahmen, mehr als ein Herkommen, mehr als eine signifikante Referenz Schließlich ist es der Zusammenklang von all diesen Bildern, von all diesen kulturellen Bezügen, die eine Geschichte, eine Kultur eines Landes ausmachen. Je mehr sich eine solche Kultur der Vielfalt ihrer Einflüsse bewußt erweist, je offener sich eine Kultur erweist, des so reicher, und interessanter ist sie. Ein Blick der sich auf Erwartungshaltungen konzentriert und nach der Bestätigung bestimmter Normen sucht, verkennt dieses Potential, beschränkt die Kultur auf ein Kümmerliches.

Rafael von Uslar

ab minute 1.30

am ende

Nichts als die Zeit

Nichts als die Zeit

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„Nichts als die Zeit“ der Künstlerinnen Anny und Sibel Öztürk, die uns mit ihrer Installation in eine vergangene Zeit entführen. Hierfür bauen die Schwestern – Anny und Sibel– in „Nichts als die Zeit“ (2011) das Istanbuler Wohnzimmer ihrer Großtante nach, bei der sie Jahr für Jahr ihre Sommerferien verbrachten. Anstatt jedoch mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft draußen auf der Straße spielen zu dürfen, mussten die beiden in der Wohnung bleiben. Zu groß war die Sorge der Großtante, dass sich die beiden Mädchen, nunmehr Fremde, nicht mehr verständigen könnten und ihnen etwas zustoßen würde.

Dass dies trotz der persönlichen Erzählung, mit der die Künstlerinnen den Betrachter hier konfrontieren, auch für die kollektive Erfahrung der Isolation in der eigentlichen Heimat steht, spiegelt die Installation ebenfalls wider. So fällt der Blick durch die halbgeöffneten Schlitze der Jalousie auf die Schwarzweißfotografie einer Hauswand. Dort schaut ein kleines Mädchen mit sehnsuchtsvollem Blick scheu herüber. Auch nur zu Besuch in den Ferien, durfte es ebenso nicht alleine zum Spielen gehen.

Einen Blick von innen nach außen beschreiben Anny und Sibel Öztürk in ihrer stimmungsvollen Arbeit, der Kindheitserinnerungen an Besuche bei ihrer Großtante in Istanbul zugrunde liegen. Von dort konnten sie auf ein Haus und auf das Mädchen sehen, das darin wohnte und mit dem sie Kontakt aufnahmen. Alles haben die Künstlerinnen nachgebaut, um ihre neugierigen Blicke in die Wohnung der Familie auf der anderen Seite nachzuvollziehen: Tisch und Stühle stehen vor einem Fenster mit Lamellen wie im Zimmer ihrer Großtante, und an der Wand gegenüber zeigt ein flächendeckendes Foto das Nachbarhaus und am Fenster das Mädchen.

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Sound: Bertil Mark

unspeakable home

unspeakable home

Wandinstallation

MyBerlinWall, Berlin, 2011

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Photo: Claus Rottenbacher

(…) Der Hinweis auf die formale Ähnlichkeit der Fenstergestaltung im Istanbuler Haus der Großmutter und im Berchtesgadener Berghof Adolf Hitlers war Ausgangspunkt für eine Recherche, deren künstlerisches Resultat die in Berlin gezeigte Installation unspeakable home ist.9unspeakable home ist zugleich auch der Titel der hier vorliegenden Publikation, der somit vierten künstlerischen Umsetzung der gleichen Geschichte. Für dieses Buch hat Anny Öztürk einen Zyklus von Zeichnungen geschaffen, der illustrierend sich eng mit den Motiven der Erinnerungserzählung verbindet. Ganz anders als in den Installationen, folgen hier die Bilder den im Text beschriebenen Ereignissen und Gegebenheiten mit großer Nähe und Ausführlichkeit. Text und Zeichnungen ergänzen sich unmittelbar und verdichten die unterschiedlichen Aspekte der Geschichte zu einer beinahe filmischen Einheit.

Die Berliner Installation wurde eigens für eine Ausstellungswand im Ambiente einer Charlottenbuger Privatwohnung konzipiert.10 Auf der wandfüllenden schwarz/weiß Photokopie, einer photogra-phischen Interieurdarstellung, ist neben einer Zeichnung und zwei Gemälden ein Leuchtschriftzug angebracht. Dieser überschreibt die Abbildung mit den Worten unspeakable home. Vor der Wand stehen in Kunststofftöpfen Holzlattenkreuze, an denen an Kabeln und aus Folien ausgeschnittene Gebilde charakteristische Blattformen jener bekannten Zimmerpflanze nachahmen. Es handelt sich um freie Nachschöpfungen der Monstera Deliciosa, die hier ganz in schwarz gehalten sind. Dieser Wandbereich wird ergänzt durch einen auf einer Tür angebrachten Text sowie um einige weitere Zeichnungen und ein Gemälde.

Die Wand, die das Werk in Anspruch nimmt, wird zur Decke hin von einer weiß gefassten Stuckleiste begrenzt, in der sich Muschelformen, florale Motive und Trauben in endloser Reihung wiederholen. Zum Boden hin ist eine weiße Profilleiste sichtbar, welche die Wand zum hellen Holzdielenboden abschließt. Auf der mit weiß gestrichener Raufaser tapezierten Wand befindet sich außerdem eine ganz in weiß gefasste schlichte Holztür mit einem Behelfsrahmen der Nachkriegszeit. Von der Decke des Raumes hängt eine Emil StejnarDeckenlampe, darunter steht ein Esstisch der Jahrhundertwende mit vier Stühlen von Charles Eames. Wie im Stuck mit dem Traubenmotiv bereits angedeutet, handelt es sich hier um ein Esszimmer. Dessen Tisch stammt aus der Zeit der Erbauung des Hauses. Das Design der Stühle und der Lampe ist in die späten vierziger und die fünfziger Jahre zu datieren und befindet sich damit rein zeitlich in einer verwirrenden Nähe zum auf der Wand abgebildeten Interieur.

Anders als in den vorangegangenen Installationen kommt die Berliner Arbeit ohne eine Lichtprojektion aus. Der Lichteinfall und die auf den Raum übergreifende Schattenbildung des Sprossenfensters werden stattdessen mit der wandfüllenden Reproduktion eines alten schwarz/weiß Photos in die Darstellung eingebracht. Zu sehen ist ein Fenster, das dem im Haus der Großmutter ähnelt und welches sich zudem an der architektonisch übereinstimmenden Stelle befindet. Auch hier sorgt Lichteinfall für den in der Geschichte beschriebenen langen Schatten und selbst eine Monstera ist zur Stelle. Im Raum gruppiert sich eine aus Sesseln, Armstühlen und Sofa bestehende Sitzgruppe um einen Tisch. Eine Stehlampe und ein Bild an der Wand komplettieren die Raumansicht. „Toto, I’ve a feeling we’re not in (Istanbul) anymore.“11Bei dem Interieur, das hier als bildlicher Stellvertreter für das Wohnzimmer der Großmutter in Istanbul eintritt, handelt es sich um den so genannten „Wintergarten“ des „Berghofs“, Adolf Hitlers Refugium in Berchtesgaden.12

In symbiotischer Ergänzung zum schwarz/weiß der als Tapete fungierenden Großphotokopie erscheinen die ganz in schwarz gehaltenen Monstera-Darstellungen. Es handelt sich hier um skulpturale Gebilde, die in ihrer Gestaltung Pflanzlichkeit zitieren und dies in einem formalen Detail gar auf die Anmutung einer botanischen Bestimmbarkeit hin präzisieren.

Aus großen einheitlichen Kunststoffblumentöpfen erwachsen schwarz lackierte Dachlatten, die in ihrem oberen Abschnitt mit einem locker angenagelten, ebenfalls schwarz lackiertem kürzeren Lattenstück zu einer Kreuzform finden. An einem mehr oder weniger bewegt gestaltetem Gewirr schwarzer Kunststoffkabel sind mit schwarzem Isolierband schwarz lackierte Kunststofflappen befestigt, die in Form von Scherenschnitten die Blattform einer Monstera Deliciosa aufnehmen. Diese Blattlappen zeigen sich selten geglättet, meist knicken oder rollen sie sich zu der einen oder andern Seite zusammen. Ihr hochglänzender Lackanstrich scheint auf seltsame Weise brüchig oder fleckig. So brechen und spiegeln sie einfallendes Licht gleichermaßen. Jedes dieser Blätter ist individuell gestaltet und geschnitten. Jedes einzelne dieser Topfgebilde ist mit unterschiedlich langen Kabeln und einer unterschiedlichen Stückzahl von Blattabbildungen ausgestattet. Damit hat jedes dieser merkwürdigen Schattengewächse eine eigene Gestalt und „Wuchs“- Dichte. Diese grob gezimmerten Lattenkreuze mit dem spröden Charme eingetopfter Zimmervogelscheuchen erreichen in Bezug auf ihre Darstellung pflanzlicher Motivik ein nicht unerhebliches Maß an Abstraktion. Und doch lässt sich ihnen zugleich ein gewisser, durchaus erstaunlicher Realismus nicht absprechen. Denn das, was an ihnen den Eindruck des Spärlichen und leicht Vergammelten erweckt, erinnert unweigerlich an Gestalt und Charme von über Jahrzehnte vernachlässigte Topfpflanzen, wie sie zum Beispiel in Treppenhäusern und auf Fluren älterer öffentlicher Institutionen zu finden sind. Pflanzliche Mitlebewesen, die in unerklärlicher Beharrlichkeit ihren dramatischen Auftritt als chronisch übersehene Mahnmale einer gänzlichen Abwesenheit jeglicher ästhetischer Empathie zu überleben entschlossen scheinen. Drei solcher Monsteras finden sich in der Berliner Installation. Zwei niedrig gewachsene Exemplare rahmen die Tapete von links und teilen sich eine elektrische Weihnachtsbaum-Lichterkette. Rechts außen erscheint ein besonders hochgeschossenes Exemplar, das eine ausufernde Ranke mit spärlicher Beblätterung unterhalb der Decke über die Tapete wuchern lässt. Über eine eigene Lichtquelle verfügt diese Monstera nicht.

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Diese Gebilde, der Tapete vorgelagert, vermitteln die Bildlichkeit der Installation in den Umgebungsraum hinein. Als wichtiger Protagonist der Erinnerungserzählung binden sie mit dem ganzen Gewicht ihrer dreidimensionalen Präsenz das Tapetenmotiv in die Erzählung ein. Ironischerweise findet das hochgeschossene Exemplar zu einem beinahe symbiotischen Auftritt mit der Abbildung eines Monsteragewächses, das als Teil des Berghofinterieurs seinen Auftritt als zweidimensionale Erscheinung hat.

Auf der Tapete angebracht erscheint oberhalb der beiden zusammenstehenden Monsteras die Leuchtschrift als ein weiteres prägnantes dreidimensionales Element. Eine rote LED Leucht-stoffröhre mit schwarzen Endkappen ist in horizontaler Ausrichtung direkt auf der Tapete angebracht. Davor, in einigem Abstand, sind auf langen Metallnägeln drei Stücke Tonpapier befestigt. Diese sind unterschiedlicher Größe mit zum Teil geschnittenen, zum Teil gerissenen Kanten. Das größte Papier ist an seiner Oberkante von derart irregulärer Form, dass der Eindruck nahe liegt, hier handele es sich um das kreative Recycling von Papierabfällen. Doch folgen die Stücke formal so schlüssig aufeinander, dass hier eher von einer das Provisorium simulierenden Gestaltungsstrategie auszugehen ist. Die schwarze Tonpappe ist aufwändig dergestalt perforiert, dass sich in schwungvoller „Schreibschrift“ die Worte „unspeakable home“ lesen lassen. Je nach Betrachterstandort ist dieser Schriftzug unterschiedlich deutlich lesbar. Hier fördert eine gewisse räumliche Distanz die Klarheit in der Anschauung. Das rote Licht der Röhre illuminiert nicht nur die dem Karton eingestochenen Worte, sie strahlt auch auf die Tapete ab und findet ihren Widerschein an Stuckleiste und Zimmerdecke und ist damit ein entscheidender Farbfaktor innerhalb der Installation. Und so, wie das rote Licht auf das Fenster und die Lichteinfallsdarstellung der Abbildung trifft, hat es seinen Auftritt als ein Installationsinterner Sonnenuntergang, der in illustrativer Funktion mild in den schwarz weißen Raum hineinstrahlt.

Eher zurückhaltend in ihrer Farbigkeit erscheinen die Gemälde und Zeichnungen auf der Wand. Das größte Gemälde auf der Tapete hängt in Überschneidung mit dem großen längsformatigen Bild an der Wand des „Berghofes“. Es zeigt Sibel Öztürk im pflanzlichen Dickicht des großelterlichen Vorgartens, die einen aufgeschreckten Blick direkt auf den Betrachter richtet. Schräg darunter erscheint in einer stark ornamentalen Schwarz-Weiß-Darstellung das Motiv der zweijährigen Anny, im Sessel sitzend, Monstera zerpflückend, eben so, wie es auch Eingang in die Illustrationen des Buches gefunden hat.

Eine weitere, kleinformatige Malerei findet sich zwischen Monsteras und Leuchtschriftzug. Zu sehen ist eine sehr freihändig gemalte, intime Darstellung von Vater und Großvater, die auf dem Balkon des Hauses an eine Brüstung gelehnt in ein Gespräch vertieft scheinen.

Ihre Begrenzung im Kontinuum der Ausstellungswand findet die Tapete mit dem Türrahmen. Auf der Tür selbst ist ein Ausdruck des Textes angebracht. Ein weiteres Gemälde zeigt den Großvater als Jäger mit Flinte in der einen und einem Bündel von erlegtem Federvieh in der anderen. Zwei farbig gefasste Zeichnungen zeigen die Großeltern als Ehepartner in jungen Jahren. Auf einem der Bilder erscheint in der Mitte ein kleines Mädchen, ihre Tochter, die Mutter der Künstlerinnen. Als Vorlage für diese Bildmotive handelt es sich um Photographien, die im Haushalt der Großeltern an den Wänden des Wohnzimmers hingen. Der Textausdruck und diese Bilder erscheinen im Verhältnis zu der komprimierten Installation von Tapete, Monsteras und Leuchtschriftzug wie ein beigefügter Anmerkungsapparat, der zusätzliches Material zum Hauptteil der Arbeit liefert.

Die dominanteste visuelle Erscheinung dieser Installation ist zweifelsohne die Tapete und ihr Motiv. Das abgebildete Interieur des „Wintergartens“ des „Berghofs“ ist mehr als nur ein Motiv des „Schöner Wohnen“ im „Dritten Reich“. Publiziert in Bildbänden und auf Postkarten dokumentiert es einen Anspruch auf repräsentative Herrschaftsinnenarchitektur. Im Gedrungenen und Breitem von Formen und Mustern sollen Gemütlichkeitssinn und Gediegenheit zum Ausdruck kommen. Der Tradition verbundene Formen und Materialien gelten als gestalterische Suggestion von Bodenständigkeit und „Heimat“-Verbundenheit. Um einen runden Tisch mit weißer Decke und Feldblumenstrauß in dunkler Tonvase gruppiert sich ein Sitzensemble bestehend aus einem Sofa und zwei Sesseln sowie drei hölzernen Armlehnstühlen. Die Sitzfläche der Stühle ist mit dem gleichen Stoff bezogen wie Sofa und Sessel, was die Zusammengehörigkeit des auf den ersten Blick disparat wirkenden Sitzgruppe betont. Was zunächst irritiert ist das sehr unterschiedliche Höhenverhältnis der Sitzflächen und deren Beziehung zum Tisch. Dieser lässt die Polstermöbel noch tiefliegender und gedrungener erscheinen. In Bezug auf die Stühle jedoch erscheint die Tischhöhe als stimmig. Man muss sich die Sitzmöbel nur einmal besetzt vorstellen, um die diesem Ensemble zugrunde liegende Regie zu verstehen. Diese Anordnung erlaubt zwei bei Bedarf unabhängig voneinander operierende Tischrunden. Denn auf der Stuhlebene lässt sich ohne weiteres über die Köpfe der tiefergelegten Polsterebene hinweg kommunizieren. Eine Kommunikation zwischen den Ebenen bedingt ein Aufblicken, das mit einem Blick von oben herab beantwortet wird. Hierarchische Ordnungen deutscher Gemütlichkeit.

Zu den unübersehbaren stilistischen Beklemmungen kommen in diesem Zusammenhang die unleugbaren historischen. Dieser Raum ist nicht ohne seinen Hausherrn, dessen Zeit und Wirken zu denken. Entstehung und Gestaltung des Raumes, die Dauer seiner Existenz sind unablösbar mit diesen historischen Ereignissen verbunden. Er kann nicht ohne all die anderen Räume dieser Zeit und dieses Wirkens gesehen, verstanden und erinnert werden. Und so finden im Anblick dieses einen Ortes all jene Räume ihren unweigerlichen Nachklang im Bewusstsein des Betrachters.

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Das private Domizil, das Haus der Großmutter in Istanbul, ist längst abgerissen. Eine adäquate photographische Dokumentation des Wohnzimmers liegt nicht vor. Stattdessen greifen die Künstlerinnen auf die Darstellung eines halböffentlichen Repräsentationsraumes eines Staatsmannes als Stellvertreterbild für ihre persönlichen Erinnerungen zurück. Ein verlorenes Interieur, das kein Abbild hinterlassen hat, wird darstellbar unter Zuhilfenahme eines ebenfalls verlorenen Interieurs, von dem es allerdings Bilder gibt. In diesem Prozess erfährt das historische Bild zunächst eine mehrfache Überblendung. Die erinnernden Künstlerinnen können in Konzentration auf einige prägnante Übereinstimmungen gestalterischer Details wie die Fenstergestaltung, Lichtführung und Schattenbildung, den erinnerten Raum im abgebildeten wieder erkennen. Der Betrachter kann zunächst unter dem Eindruck der als Installationsbestandteil fungierenden Erinnerungserzählung dieser Sichtweise folgen und Schattenbildung und Stimmung innerhalb des Bildes mit den Schilderungen der Erzählung in Verbindung setzten. Darüber hinaus jedoch bleibt der abgebildete Raum in seiner Gestaltung und seiner historischen Provenienz derartig signifikant und präsent, dass er kaum als eigenständiger Erinnerungsraum übersehen werden könnte, um zur Gänze in der Rolle einer Illustration der Geschichte aufzugehen. Vielmehr behauptet er seine eigene Erzählung, seine eigene historische Prägnanz und Präsenz im kollektiven Gedächtnis.

Das Motiv ist klug gewählt. Denn auch wenn Bilder des so genannten „Wintergartens“ zu den veröffentlichten Räumen des „Berghofes“ zählt, so hat er kaum eine vergleichbare ikonische Prominenz wie etwa die Terrasse, die „große Halle“ und deren Panoramafenster. Trotzdem lässt die Raumansicht in vielen Details recht zweifelsfrei auf den Standort der Räumlichkeit schließen. In der Verortung der Installation in einem privaten Wohnungszusammenhang ist dies ein wichtiger Aspekt. Der spielerisch illusionistisch der Wohnung eingegliederte Raum bedarf eines gewissen Maß an Privatheit, sonst würde die Intimität des gesamten Wohnungszusammenhanges verletzt.

Das Esszimmer, an dessen Wand sich die Installation befindet, bildet das Herzstück einer dreiteiligen Raumfolge. Mit einem Wohnzimmer ist es durch eine der Wand unmittelbar gegenüber gelegenen Flügeltür verbunden. Ein Arbeitszimmer wird durch die einfache Holztür der Nachkriegszeit erreicht. Die Hängung der Gemälde und Zeichnungen, der beleuchtete Schriftzug und die mächtig getopften tief schwarzen Monsteradarstellungen binden die Installation schlüssig in die Gesamtgestaltung des Wohnbereiches ein. Auch hier dominiert eine sehr dichte Sankt Petersburger Hängung, die sich, ebenso wie die Installation, gleichfalls nicht auf die Wände beschränkt sondern mit Objekten in die Tiefe des Raumes fortgesetzt wird. Die Installation erscheint hier also nicht etwa als prominenter Fremdkörper innerhalb eines ‚white cubes’, sondern als ein mit der Syntax der Wohnungsgestaltung korrespondierendes Element.

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Die Einbindung in den Wohnungszusammenhang spielt auch in der Anlage der Darstellung selbst bereits eine wichtige Rolle. Die grobe Auflösung der photographischen Abbildung des Berghofinterieurs führt in der Nahansicht zu einer entschiedenen optischen Verunklärung des Motivs. Dies begünstigt in der Anschauung der Arbeit zunächst eine Konzentration auf die Lektüre des Textes und eine nähere Betrachtung der zum Teil sehr kleinteiligen Zeichnungen, von denen eine mit eigenem Text ein ganz besonders bildnahes Studium erfordert. Schon die Betrachtung der Gemälde wie auch des beleuchteten Schriftzuges laden zu einer größeren Distanznahme innerhalb des Raumes ein. Der Gesamteindruck des Werkes, vor allem aber die Wahrnehmung des reproduzierten Tapetenmotivs, verändert sich noch einmal grundlegend, wenn man durch die Flügeltür tritt und die Wand aus dem Wohnraum heraus wahrnimmt. In der Distanz schwindet die Verunklärung des schwarz/weiß Motivs und wie in einer Fokussierung sieht man den abgebildeten Raum in deutlicher Klarheit, was ihm gegenüber den auf ihm angebrachten Bildern zu einer ganz neuen Tiefe und Präsenz verhilft.

Aus dem anderen Raum heraus gesehen wird die Berghofabbildung aber auch ganz anders innerhalb der wohnungseigenen Abfolge von Räumlichkeiten wahrnehmbar. Das Interieur des „Wintergartens“ erscheint nun nahezu illusionistisch eingebunden. Auf den Esstisch mit Lampe und Bestuhlung im Zentrum folgt als angrenzende Zimmereinheit die Berchtesgadener Sitzgruppe mit der scheinbar gleichen Logik wie das Charlottenburger Sofa und Sesselensemble. Dieser „andere“ Wohnraum verhält sich spiegelbildlich zu dem, in dessen Mitte man sich befindet. Eine solche Wahrnehmung erschließt den abgebildeten Raum als integralen Bestandteil der eigenen Umgebung auf der Basis des gemeinsamen Nenners eines privaten Interieurs. Solchermaßen in den Blick genommen, erscheint der „Berghof“ als ein innerhalb der Wohnung zugänglicher Raum.

Solch optisch räumlich vorstellbar gemachte Vereinnahmung hat allerdings mehr als nur eine unangenehme Konsequenz. Zum einen hört man nicht auf, auch im Berghof zu sein, wenn man sich in dieser Wohnung aufhält. Zum anderen befindet sich das der großen Terrasse zugewandte Fenster im Anschluss zu der ins Arbeitszimmer führenden Tür. Dies suggeriert, folgt man dieser Vorstellung räumlicher Präsenz, dass, öffnet man diese Tür, man sich ebenso folgerichtig wie unweigerlich an eben dem Ort befinden würde, der den Paladinen des Dritten Reiches als große Bühne für Führerbegegnungen gedient hat. Eva Braun hat das umtriebige Geschehen jener berühmten Terrasse auf etlichen Metern Farbfilm sorgsam für die Nachwelt dokumentiert. In Berlin aber nun Himmler und Heydrich etwa immer wieder aufs Neue hinter dieser Tür befürchtend vermuten zu dürfen, ist nun wahrhaftig eine eher unzumutbare Vorstellung!

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Das mit der Erinnerungserzählung aufgerufene großelterliche Wohnzimmer hat eine eigene Präsenz, deren visuelle und erzähleri-sche Rückversicherungen Texte, Gemälde und Zeichnungen sind. Aus dieser Perspektive zeigt das Tapetenmotiv einen Raum in Stellvertreterfunktion und die solchermaßen auf formalen räumlichen Übereinstimmungen basierende Motivwahl ist zunächst einmal ein provokativer Akt. Er beinhaltet die Herausforderung, all das zu übersehen, was den historischen Kontext und die kulturelle Signifikanz des abgebildeten Ortes tatsächlich ausmacht. Eine solche Aufforderung ließe sich als eine ironisch anarchische Anleitung verstehen, der das Potential innewohnt, eine befreiende Wirkung auf den eigenen Blick auszuüben. Konterkariert wird dies jedoch in der Art und Weise, in der solch historischer Raum in das Wohnungsinterieur eingebunden wird, womit sogleich dem kreativen Akt willentlicher Befreiung mit dem ganzen bedrückenden Gewicht historischer Präsenz jeglicher Spielraum zur Entfaltung genommen wird.

Erinnerungsraum und historisches Motiv überlagern sich, ohne je ineinander aufzugehen. Vielmehr verbinden sich die in einer anderen Kultur und Geographie angesiedelten Erinnerungen mit dem historischen Erbe eines Landes, in dem erinnert wird. In ihrer Überlagerung werden beide Motive aufgerufen und behalten ihre eigene Präsenz. Spätestens hier wird deutlich, dass, fehlte dieser Aspekt der kulturellen Differenz, die hier entwickelte Strategie der Erinnerungsvermittlung gänzlich unerträglich wäre.

Einen Raum erinnert man nicht unbedingt seinen realen architektonischen Gegebenheiten gemäß, sondern aufgrund von Eindrücken und Gefühlswerten.13 Ebenso ist, um ein räumliches Erinnerungsbild aufzurufen oder in der Darstellung eine Form zu geben, keine akkurate Nachbildung des historischen Originalraums nötig. Es reicht als einen pointierten Übersetzungsakt eine Szene zu entwerfen, die „auf dem Hintergrund einer dunkel gewordenen und verwischten Vergangenheit ein einzigartig lebhaftes Bild“ heraufbeschwört.14 Entsprechend der kindlichen Erinnerung, in der bestimmte Gegenstände und Personen eine dominierende Rolle spielen, reicht es, mit einzelnen Objekten, einigen prägnanten Aspekten das Erinnerungsbild eines Ortes nach außen vermittelbar entstehen zu lassen.

Im Fall der Berliner Installation ist es das ähnliche Fenster, an der gleichen Stelle des Raumes positioniert, der wieder erkannte Licht- und Schatteneinfall, die Präsenz einer Zimmerpflanze gleicher Gattung und für Anny Öztürk und diejenigen in ihrer Familie, die mit jenem Raum im Haus der Großmutter vertraut sind – und nur für sie – ist der Erinnerungsort auf solche Weise mit diesem Bild präsent.

Für alle anderen Betrachter hört das Bild nicht auf Hitlers „Berghof“ abzubilden – mit all dem Bedrückenden, was dieser Ort in seiner Gestaltung und seiner historischen Bedeutung vermittelt. Die Art und Weise, wie sich die Raumdarstellung in das Raumkontinuum der Wohnung eingliedert, bleibt Herausforderung und Zumutung. In der Überblendung eines kollektiven Erinnerungsortes mit einem Motiv individueller Erinnerungen erschließen sich völlig neue Bedeutungsebenen. Darüber hinaus kann hier mit einer lustvoll provokanten Geste und einem großen Maß ironischer Distanznahme von einem ‚Zuhause’ in zwei Kulturen gesprochen werden – in eben der Form, die mit Fug und Recht das Unaussprechliche für sich in Anspruch nimmt.

Schließlich ist es innerhalb der Installation der beleuchtete Schriftzug, der die disparaten Elemente zusammenhält. Er fungiert als ein Fixpunkt, auf den hin sich die verschiedenen Aspekte der erzählerischen Strategien und Inhalte der Installation entwickeln und konzentrieren. Er bezeichnet den Punkt, an dem sich das Unaussprechliche und das Zuhause verbinden, um das Unaus-sprechliche dieses Zuhause sichtbar werden zu lassen. Dort, wo man sich als heimisch anerkennt in der Überforderung und der Zusammengehörigkeit des Disparaten, ist es möglich, Zuhause zu sein in mehr als einer Kultur, mehr als einer Geschichte – mag solche Vielfalt gegeben sein, gewählt oder gesucht. „Zuhause“ wird erkennbar als der eine oder andere Ort, an dem eben solche Unaussprechlichkeit zur Heimatgefühle vermittelnden Kommunikationsaufforderung wird.(…)

Rafael von Uslar

9 „unspeakable home“ ist ein weiteres Zitat aus Samual Becketts Libretto Neither, siehe Anm. 5.

10My Berlin Wall, Nur nach Voranmeldung, My.Berlin.Wall@gmx.de

11 „Toto, I’ve the feeling we’re not in Kansas anymore“ ist eine der berühmtesten Einlassungen von Dorothy zu ihrem Hund Toto nach der Ankunft in Oz, in: The Wizard of Oz, MGM, 1939.

12 Zur formalen Nähe der Fenster im Berghof und im Haus der Großmutter siehe: Rafael von Uslar, Der lange Schatten des Fensters der Nadiye Özdöl, in: Anny und Sibel Öztürk from inner to outer shadow , hg. Schrader Stiftung und Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt, 2010, S.9/10.

13 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt, 1985. „… was man oft von einem Haus, in dem man gelebt hat, in Erinnerung behält, ist weniger die Aufteilung der Zimmer, wie man sie auf einem archtitektonischen Plan festhalten könnte, als nach Eindrücken…“ „ Ebenso gewinen die verschiedenen Zimmer eines Hauses, bestimmte Ecken, Möbel … irgendwie einen Gefühlswert ….“ S.142.

14 Maurice Halbwachs, Ebd. S. 211/212.

Sound of the City

Sound of the City

Interaktive Multimedia-Installation

Playing the City II, Schirn Kunsthalle, 2010

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New York, London, Berlin, Istanbul und Frankfurt sind die 5 Städte, in denen die meisten Freunde der beiden Künstlerinnen leben und auch die Ausgangspunkte einer Sound- und Videoinstallation, die im Rahmen von PLAYING THE CITY 2erstmals gezeigt wird. Den kartografischen Daten der Orte werden dabei Töne zugeteilt und in eine quasi städtetypische Musik verwandelt, die, nach den fünf Städten unterteilt, an fünf aufeinander folgenden Tagen zu hören sein wird. Auf zahlreichen gespannten Bändern und einer Pappewolke sind, zusätzlich zu den Sounds, abstrahierte Bilder der Städte zu sehen, die durch die Beteiligung der Besucherinnen und Besucher beeinflusst und verändert werden können.

sound of the city (2)

New York, London, Berlin, Istanbul and Frankfurt: are the 5 cities with the most facebook-friends of the two artists, and the starting points for a sound and video installation, to be shown for the first time in Playing the City 2. Cartographic data on these places will be assigned musical notes and transformed into a sort of music appropriate to each city, which can be heard on five successive days. To accompany the sounds, abstracted images will be displayed on stretched wires and carboard clouds. These images can be influenced and modified with the involvement of the visitors. Anny and Sibel Öztürk see their work in the context of their own experiences and memories, while being embedded in a wide network that connects them with people and places where they live and work. Their works often have the appearance of stages, where their friends and those who would like to become their friends are invited to extend the network in which the two artists locate their own identity.

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Behind the Wheel

Behind the Wheel

Cetinje Biennale, 2003

 

Anny & Sibel Özturk 10 - Kopie

The Öztürks are very precise about their travels and the distances they have covered. In their Behind the Wheel (2004) is an installation of 16 images on various sorts of paper, 4 maps, a text piece, completed with a sound-track and a used automobile. All images are gouaches of moments in a journey, each in the same casually charming style, between a travel brochure and a children’s book . Beneath all of them are hand-written texts that do and don’t make some sense of them. A white car waiting to loaded with four gouache suitcases, three in each of the primary colours and one in a dirty brown, clearly displays its registration number, and the writing of this number shares a hand with the narrative script beneath. This in turn refers both to the first image, ‘Die koffer waren gepackt’, and perhaps also to the one on brown paper immediately below, ‘die strassen noch nicht so voll…’; and perhaps to the almost empty road in the painting to its right, below which in turn the script tells us that the Croatian landscape is beautiful and looks like Austria. But here, back in the lower left, the luggage seems to reappear as a little abstract motif on the roof rack of a quite different vehicle, a large white people-carrier that forms a formal composition with a passing red car. And again, to the right, the white car is back in the fourth gouache with two figures sitting on a bench where it is parked, captioned by a paragraph that tells nothing of the image. There is no ‘Turkish flag fluttering in the wind…’

This sheet belongs in a larger installation, and as we attend to it we discover a logic of dissociation, a migration of words and colours between the parts of an illusion. This is the same time both a dispersal and a gathering of the ways of making marks, inscribing word as if it were only image, of installing or of hearing that have all become the substance of our being-contemporary in the practices of art. There is no one story in the end, just things to say and things to see, that go back to a journey which is both a fiction and not a fiction: for the images and their makers have come here before us, but what they have brought are incommensurable fragments from making art and living life as they have made and lived. In their journey maps as well then, as in their tiny stories of moments in a street, a mother or a grandparent, they assemble the morsels of real space of travel, of an incident literally remembered, but cluster them together only to embed them in the making of the work, so that the emotional or visual charge of each element is inseparable from artists’ materials and abstracted vision. They constellate a thinking, a seeing and a feeling of inside and outside, a map of boundary and edge, of here and there, that always returns us to the mark, the fabrication, the work and the body of the viewer; and so to their own uncanny presence in space, on paper, in light, in smell and sound.

Anny and Sibel Öztürk discover these multiple figurations of spaces and of times perhaps only for us to lose our track of them as we find our way into and through their work. At some moment of our perception of the stories that they tell, unforeseeable a sound, a text, a texture, a breeze, a written phrase distracts and its beauty, its sensuality or its enigma blur any literal response. In this being-not quitepresent to us, the artists offer us something like this: not just the haunting of an Other, but a renewal of our own haunting otherness to ourselves. And, as Julia Kristeva has argued, might not this be enough of a universal for us, as we are? or for Europe now; a gift of self-estrangement and of recognition.

 

 

Adrian Rifkin

 

A better World lies in front of me (gecekondu)

A better world lies in front of me (gecekondu)

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Eine Bretterbude. Komplett mit Tür, Fenstern, Blechdach, Blumen vor der Tür, Gardinen und Fußmatte. Ein Fenster gibt den Blick frei auf ein Interieur mit Sessel, Tisch mit Spitzendecke unter Fernseher und einer Lagerstatt aus Kissen und Decken. Die Tür ist verschlossen, das Innere des Raumes verwaist, aber der Fernseher ist in Betrieb. Der Bau, eine patchwork Konstruktion aus zum größten Teil recycelten Materialien, denen man entweder aufgrund von Verbrauchs- und Farbspuren eine frühere Verwendung ansieht oder die deshalb auffällig werden, weil sie in fremdem Gebrauchszusammenhang erscheinen. Die Eingangstür zum Beispiel, ist eine alte hochpolierte Schlafzimmerschranktür mit Spuren floraler Schmuckapplikationen. Die Möbel haben Sperrmüllqualität und die Blumenkübel sind aufgeschnittene Konservendosen.

Das wichtigste aber ist passiert, bevor dieser Anblick geboten wird. Als Familienunternehmen bauen Anny und Sibel Öztürk die Bude mit Unterstützung ihrer Männer auf. Unter Zeitdruck, denn der Bau gehört zur Gattung der Gecekondu, eine türkische Spezialität. Gecekondu bedeutet: „über Nacht gebaut“ und bezeichnet laut juristischer Definition: „eine Hütte, ohne Genehmigung auf dem Land eines anderen Eigentümers erbaut“.i Hat eine solche Hütte binnen 24 Stunden ein Dach über dem Kopf zu bieten und wird bewohnt, so kann sie ohne richterlichen Beschluss nicht abgerissen werden. Der Film, der über den Bildschirm flimmert erzählt die Geschichte eines solchen Aufbaus und beschreibt das Familienglück, das sich darin finden lässt.ii

A better world lies in front of me“, so der Titel der Installation, zeigt ein türkisches Gecekondu in Deutschland. Der Verweis auf den Erfolg einer anderen kulturellen Praxis, kann als kreativer Impuls im Austausch zweier Kulturen fungieren. Im Ausstellungsraum wird das Gecekondu so zum Musterhaus. Im Kontext der vielen bedeutenden Bretterbuden und ambulanten Bauten der neueren Kunstgeschichte ist es eindeutig jenen Schauobjekten zuzuordnen, die ihre inhaltliche Ebene als Modell illustrieren. Den Realismus der Szene seines Aufbaus inbegriffen, verweist es auf jenes türkische Prinzip von Selbstversorgung und Eigeninitiative, das nicht nur individuelle Existenzen sichern konnte, sondern auch einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der heimischen Wirtschaft geleistet hat.

Eine solche Strategie, die Selbsthilfe, Kreativität und Flexibilität mit „informeller“ Legalität verbindet, ist als gesellschaftliches Konzept aus deutscher Sicht ebenso ein Graus und gänzlich Vorbild-untauglich, wie die katastrophisch erscheinende wilde Stadtentwicklung Istanbuls. Schließlich würde selbst unser Vorzeige-Gecekondu nicht einmal dem Regelwerk eines deutschen Kleingartenvereins genügen!

Und doch: eines der international renommiertesten europäischen Architekturbüros hat für die Erneuerung des Wirtschaftsraumes „Ruhrgebiet“ den Vorschlag zur Schaffung einer Freihandelszone gemacht. Es entstünde ein Raum, in dem eine Vielzahl von Vorschriften und Gesetzen außer Kraft gesetzt würden, mit dem Ziel, unorthodoxes kreatives Handeln und Wirtschaften zu fördern.iii

Der ambulante Hausbau auf Zeit ironisiert aber auch sinnbildlich die Position der nach Deutschland emigrierten Türken und ihrer im Land geborenen Nachkommen. In einer Kultur, deren Sprachgebrauch für sie keine anderen Namen kennt als einen Begriff mit dem sie immer wieder des Landes verwiesen werden, bedarf es solcher symbolischer Landnahme für die Besetzung eigenständiger Positionen. So bauen Anny und Sibel Öztürk ihre Buden und zeigen, was ein Gecekondu ist. München, Weimar Karlsruhe, zügig besetzten sie zunächst den deutschen Ausstellungsraum, denn: „Türken können vielleicht nichts perfekt, aber sie können alles.“iv

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Rafael von Uslar

i zitiert nach: Gerhard Fehl, „Informelle Produktion“ von Wohnung und Stadt: Gecekondus in Istanbul, in: Die Alte Stadt. Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Nr. 27, 2000, S.163.

ii „Bir Avuc Cennet“

iii Hierbei handelt es sich um ein unveröffentlichtes Arbeitspapier.

iv Anny Öztürk im Gespräch mit dem Autor.

Temporary Imperfect Incomplete

Abfall und Zufall

Anny und Sibel Öztürk: temporary imperfect incomplete in der Galerie Perpetuel

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Anny und Sibel Öztürks temporary imperfect incomplete präsentiert sich als ein Raum, gefüllt mit seltsamen Zwitterwesen aus Möbeln, farbig bemalten Kartons und Hochglanzreklamen, die sich als Architekturmodelle der anderen Art erweisen. Als Ensemble bilden diese eine quasi urbane Bemöbelung des Galerieraumes aus.

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Künstlerische Modellbauprojekte gibt es viele: Von den Architekturutopien in den sechziger Jahren über die Romantik der „Spurensicherung“ und die weitläufigen gebastelten Pathosübungen der achtziger Jahre bis hin zur Wiederentdeckung sozialkritischer und sozialutopischer Untersuchungen im aktuellen Globalisierungslook. temporary imperfect incomplete reiht sich in eine Geschichte der im Namen der Kunst gebastelten Modellarchitekturen ein, knüpft aber auch an eigene Projekte der Künstlerinnen an. So installieren Anny und Sibel seit 2003 selbstgezimmerte Architekturinstallationen nach dem Vorbild eines Gecekondu für verschiedene Ausstellungsräume. Ein Gecekondu ist eine türkische Spezialität und bedeutet: „über Nacht gebaut“ und bezeichnet laut juristischer Definition: „eine Hütte, ohne Genehmigung auf dem Land eines anderen Eigentümers erbaut“. Hat eine solche Hütte binnen 24 Stunden ein Dach über dem Kopf zu bieten und wird bewohnt, so kann sie ohne richterlichen Beschluss nicht abgerissen werden – nicht einmal im Ausstellungsraum!

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2007 reisten Anny und Sibel Öztürk zur Vorbereitung einer Ausstellungsbeteiligung nach Medellin/Kolumbien. Dort beeindruckten sie die Favelas als wahre Gecekondustädte. Einige der dort gemachten Beobachtungen haben Einfluss auf temporary imperfect incomplete genommen und verdienen insofern hier ihre Erwähnung. Da sind zum einen die übergroßformatigen Reklametafeln zu nennen, die das Erscheinungsbild so vieler Elendsviertel in Nord- und Südamerika bestimmen. Inmitten all des Elends, in das sie gepflanzt wurden, wirken die Hochglanzwerbungen für Luxusprodukte auf Außenstehende wie ein größtmöglicher Zynismus. Und doch scheinen sie als glaubhafte Darstellungen wichtiger Versprechen eine Funktion zu erfüllen. In Medellin haben die Behörden alternativen Lebensraum zur alternativen Stadtgestaltung geschaffen: Hochhäuser mit schönen ordentlichen Sozialwohnungen, in die FavelabewohnerInnen umsiedeln sollten. Leider hatte keiner der Stadtplaner bedacht, dass die meisten Familien Tiere halten die ihnen zum Lebensunterhalt unverzichtbare Dienste leisten. Und da weder Pferde, Esel oder sonstige Nutztiere das Leben in Etagenwohnungen höherer Stockwerke zu schätzen wissen, waren die Hochhäuser kein Favelaersatz. Als verblüffende Lichtblicke im engen Verband gering-geschossiger Favelabauten fielen Anny und Sibel einzelne Gebäude auf, die in ihrer Gestaltung ein klares Bekenntnis zur klassischen internationalen Moderne demonstrierten. Moderne geht immer!

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Soviel zum Anekdotischen. Die Favelas von Medillin bilden einen Anregungsausgangspunkt für temporary imperfect incomplete, Thema sind sie nicht. Von Frankfurt aus gesehen sind Favelas ein anderer Ort, ein fremder, vor allem aber ein Ort der Bilder. Man kann die Realitäten, die solche Bilder hervorbringen, mit dem Impetus sozialer Anteilnahme für eigene Darstellungen vermeintlich engagiert, aber in der Sache kenntnislos für sich vereinnahmen. Das bedeutet Anmaßung und endet bestenfalls im Sozialkitsch. Man kann jedoch auch die Bilder als eben das ernst nehmen, was sie sind. Sie zeigen außer sozialen und politischen Zuständen, die kritikwürdig sind, Architekturensemble von höchst eigener Dynamik und Ästhetik.

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Zu sehen ist in temporary imperfect incomplete der freizügige Umgang mit zahlreichen, dem Abbildungsgegenstand unangemessenen Materialien. Architekturmodelle haben eine bessere Provenienz verdient als Sperrmüll, Müslikartons und Ikeaordner! Und eben hier beginnt ein unterhaltsames Spiel. Es handelt von freien Assoziationen und einer Übersetzungsleistung im Anschauungsprozess. So wird zunächst das andere Material sichtbar: Das Möbel, der bemalte Karton, der Klebestreifen und der kreative Zufall. Dies wird übersetzt in das Gemeinte: Vertraute oder denkbare architektonische oder architekturnahe Formen. Damit lässt sich schließlich ein urbanes Ensemble assoziieren aus dem, was aber immer zugleich auch Sperrmüll, Werbung und Kartonage bleibt und darin auch gar nicht übersehen werden soll. Denn in diesem ereignisreichem Zusammenspiel von Abfall und Zufall wird etwas gezeigt, das in dem Freiraum zwischen Assoziation und Übersetzung angesiedelt ist. Das Gezeigte ist das Spiel, die Kreativität im Umgang mit Materialien zum Zweck poetischer Bildfindungen.

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Und weil die Kunst der „Spielfall“ ist, bietet ihre Poesie Raum für subversive Differenz und so handelt temporary imperfect incomplete dann dochvon Favelas und sozialer und politischer Ungleichheit, aber eben so wie Robert Fillious 7 Childlike Uses of Warlike Material vom Krieg handelt.

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Rafael von Uslar

Ring Ring Ring

Ring Ring Ring

Eine Installation für einen Außen- oder einen Innenraum

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Die Installation besteht aus einem 4-5 Meter hohem Mast. In seinem oberen Drittel ist dieser Mast, aus grob behauenem, imprägniertem Holz, mit hölzernen Verstrebungen versehen. Diese weisen in leicht diagonaler Anlage in verschiedene Himmelsrichtungen und dienen der Befestigung von unterschiedlich farbigen Elektroluminiszenzkablen, mit denen bei einer Innenrauminstallation unterschiedliche Punkte an den Wänden eines Raumes oder bei einer Außenaufstellung über einen Platz oder über den Straßenraum hinweg verschiedene Gebäude, oder aber auch einzelne Laternenmasten miteinander verbunden werden.

Die Skulptur erinnert an hölzerne Strommasten, wie sie in der frühen Technikgeschichte städtischer Elektrifizierung und Telekommunikation das Bild von öffentlichem Raum wesentlich geprägt haben. In seiner spezifischen Gestaltung jedoch nimmt die Skulptur deutlich jene eher ländliche Mastengestaltungen zum Vorbild, denen stets der Eindruck des sowohl flüchtig als auch unbeholfen Selbstzusammengezimmerten anhaftet. In dieser scheinbar provisorischen Gestaltung und der Anspielung auf einen technischen Anachronismus bildet die Skulptur einen ironischen Kontrast zum modernen urbanen Raum aus.


Dabei fungiert sie Skulptur zuerst einmal als ein lyrisch anmutendes Zeichen, das eine dynamische Vernetzung innerhalb eines Raumes, oder außen von umliegenden Gebäuden und Objekten mit Licht und Farbe herstellt. Mit der zweck-ungebundenen Gestalt leuchtender Kabel verbindet sich über die Gestalt des Mastes eine Vorstellung von Vernetzung mit Energie und Möglichkeiten der Telekommunikation. Und in der Tat lassen sich über die Leuchtstoffkabel in einem optisch erfassbaren Morseverfahren kodierte Nachrichten übermitteln. Hier verbindet sich das Bild städtischer Moderne und modernster Technologie mit einem Zeichen für technischen Anachronismus. Darin verweist die Skulptur zum einen in die Vergangenheit, in der Vernetzungen und Verbindungen anschaulich den öffentlichen Raum strukturierten und weißt damit ex negativo auf die scheinbar gänzlich unsichtbar gewordene wenngleich viel umfassendere Form moderner Energie- und Kommunikationsversorgung hin.

Vor allem aber weißt das Bild des technischen Anachronismus auf Verhältnisse und Gegebenheiten hin, wie sie zeitgleich zu dieser den Platz charakterisierenden Moderne eine bestimmende Realität in anderen Teilen Europas darstellen. Ein Europa, das nicht nur auf vergleichsweise engem Raum in unterschiedlichen Verhältnissen koexistiert, sondern in zunehmendem Maße sich verbindet und politisch und ökonomisch zu einer Einheit zusammenwächst.

Diesem Kontrast, dieser Spannung verschiedener Verhältnisse in Koexistenz und Zusammengehörigkeit, verleiht der „Strommast“ eine heiter ironische Lichtgestalt.

Rafael von Uslar

Rear Window

Rear Window (Story No. 6)“

 

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Anny und Sibel Öztürk haben mit „Rear Window (Story No. 6)“ das Wohnzimmer ihrer Großtante aus Istanbul mit allem, was an Mobiliar und Atmosphäre dazugehört, rekonstruiert: Fernseher, Vitrine, 1950er-Jahre-Möbel aus Holzimitat, Deckchen, ein blasser Rokoko-Gobelin und ein Großfoto von einem See inmitten der schneebedeckten Rocky Mountains; es ist düster und heiß; laute Straßengeräusche sind zu hören, Stimmen reden durcheinander, die Vorhänge blähen sich und das Licht eines Autoscheinwerfers streift am Fenster vorbei.

Damit versetzen sie die Betrachter und Betrachterinnen nicht nur ins vermeintliche Istanbul, sondern in erster Linie in eine unheimliche Spannungssituation. Der Titel der Installation trägt den Namen eines Hitchcock-Films „Das Fenster zum Hof“ und in Öztürks „Rear Window“ spukt der Geist der Tante. Anny und Sibel Öztürk verbrachten in dem Istanbuler Zimmer jeweils eine Woche, bevor es mit der Familie ans Meer ging.

Die Installation rekonstruiert insofern kein Zimmer in, sondern eine Kindheitserinnerung an die Türkei, vermittelt durch einen amerikanischen Film. Die scheinbare konkrete Ortsbezogenheit auf Istanbul verdankt sich der Ortlosigkeit der Erinnerung, die sich ständig mit anderen Bildern vermischt. Folgt man der Installation, sind es solche imaginären Projektionen auf die Vergangenheit, die einem seine Identität verschafft.

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es ist dunkel im zimmer und es ist sehr heiss. ich brauche nicht meine augen zu öffnen, um festzustellen, dass meine grosstante einige meter weiter, auf ihrer klappcouch schläft. ich rieche sie. sie riecht nach essig. das schützt vor moskitos, die sich nachts über uns hermachen. sie kommen in massen durch die fenster, die im ganzen haus offen stehen.

keine kühlung in sicht, obwohl vor vielen stunden die sonne untergegangen ist. ich war zeugin. ich sah wie scheinbar das meer sie verschluckte. dabei hatte ich eine cola gezischt. wir hatten in einem der teegärten gesessen, die sich wie perlen an der schnur um die kaimauer reihen.

ich öffne die augen. meine tante atmet gleichmäßig. sie schläft. ich frage mich, warum ich nicht schlafe. was hat mich geweckt? die uhr zeigt mit dem kleinen zeiger auf die vier und mit dem grossen einen oder zwei nach zwölf.

da höre ich es wieder. ein entferntes rufen oder singen.

ich weiss, dieses für meine ohren ungewöhnliche geräusch, hat mich geweckt. es ist ein „ezan“. das heisst, dass ein hoca sich in einem minaret der moschee ganz oben hinstellt und ganz laut betet. also, so kann man es jedenfalls erst mal zusammenfassen.

wenn ich mich konzentriere, kann ich noch mehr ezanrufe hören. je stadtteil eine stimme und istanbul hat eine menge stadtteile. natürlich kann ich nicht alle hören.

die lauteste stimme kommt aus unserem stadtteil bakirköy und die hat mich vermutlich geweckt. mir gefällt es gut. ich fliege mit den stimmen über der stadt umher und schlafe dabei einfach ein.

es ist schon hell im zimmer und noch viel heisser als in der nacht. mir rinnt der schweiss die schläfen runter. draussen hupt es und ich höre viele stimmen. menschen, die sich unterhalten. die taxifahrer aus der taxizentrale gegenüber, die auf stühlen vor ihrem büro, an der strasse sitzen. frauen, die aus ihren fenstern ihre bestellungen dem verkäufer des minimarktes an der ecke, zurufen. (ohne aus dem fenster zu sehen, weiss ich, dass sie ihre flechtkörbe aus dem fenster abseilen, um die bestellten waren entgegen zu nehmen.) strassenverkäufer und altwarenhändler, die in einem mir unverständlichen kauderwelschsingsang, ihre waren anbieten. und dies alles wird untermalt von einem ständigen hupen. kurze huper, die zeigen wer die vorfahrt hat oder die fussgänger warnen sollen, sich schnell wieder von der fahrbahn zu machen oder einfach nur huper aus gewohnheit.

huphuphup.

als wir alle um den grossen tisch sitzen und frühstücken, klingelt es. meine mutter springt auf und geht zur tür. einige sekunden später ruft sie meine tante. sie klingt…ja, irgendwie verzweifelt. meine tante schlurft zur tür, dann höre ich sie reden und ich höre, wie sie sagt : „na dann zeig mal.“ und meine mutter :“aber tante, lass doch.“

von neugier getrieben, gehe ich langsam zur tür. unter dem arm meiner tante, die die tür festhält, schaue ich auf ein elfjähriges mädchen. sie schaut etwas traurig. ihr kleid ist schmutzig. genau wie ihre haare. sie zieht den rock hoch und ihre unterhose runter. was ich da sehe, verstehe ich nicht. ich schaue irritiert in ihr verzweifeltes gesicht. sie ist ein hübsches mädchen mit traurigen augen. aber unter ihrem kleid ist sie ein junge. ich taumele zurück und höre noch, wie meine mutter und meine tante ihr geld geben. sie sagt, sie spare für die operation und bedankt sich leise.

in eberbach hatte ich im letzten sommer eine dicke raupe gefunden, in unserem garten. meine eltern hatten mir erlaubt, sie zu behalten. dabei hatten sie sich belustigt angelächelt.

ich legte die raupe auf den esstisch auf ein grosses salatblatt, bevor ich ins bett ging. Am nächsten morgen war sie verschwunden. Wütend hatte ich meine eltern angesehen, die mich angrinsten. mein vater hatte auf die gardine gedeutet. ich hatte hochgesehen und da sass ein schmetterling. an seine farbe kann ich mich nicht mehr erinnern aber ich glaube, sie war so gelb wie der löwenzahn, der sich in eine pusteblume verwandelt. und genauso hatte sich meine raupe in einen schmetterling verwandelt.

und so wird sich dieses mädchen in ein richtiges mädchen verwandeln“, sagte mein vater. Irgendwie freue ich mich für sie.

draussen bestellte eine frau ein brot, einen eimer joghurt und ein halbes kilo salz und dann sauste ein korb nach unten, an unserem fenster vorbei.