Nichts als die Zeit

Nichts als die Zeit

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„Nichts als die Zeit“ der Künstlerinnen Anny und Sibel Öztürk, die uns mit ihrer Installation in eine vergangene Zeit entführen. Hierfür bauen die Schwestern – Anny und Sibel– in „Nichts als die Zeit“ (2011) das Istanbuler Wohnzimmer ihrer Großtante nach, bei der sie Jahr für Jahr ihre Sommerferien verbrachten. Anstatt jedoch mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft draußen auf der Straße spielen zu dürfen, mussten die beiden in der Wohnung bleiben. Zu groß war die Sorge der Großtante, dass sich die beiden Mädchen, nunmehr Fremde, nicht mehr verständigen könnten und ihnen etwas zustoßen würde.

Dass dies trotz der persönlichen Erzählung, mit der die Künstlerinnen den Betrachter hier konfrontieren, auch für die kollektive Erfahrung der Isolation in der eigentlichen Heimat steht, spiegelt die Installation ebenfalls wider. So fällt der Blick durch die halbgeöffneten Schlitze der Jalousie auf die Schwarzweißfotografie einer Hauswand. Dort schaut ein kleines Mädchen mit sehnsuchtsvollem Blick scheu herüber. Auch nur zu Besuch in den Ferien, durfte es ebenso nicht alleine zum Spielen gehen.

Einen Blick von innen nach außen beschreiben Anny und Sibel Öztürk in ihrer stimmungsvollen Arbeit, der Kindheitserinnerungen an Besuche bei ihrer Großtante in Istanbul zugrunde liegen. Von dort konnten sie auf ein Haus und auf das Mädchen sehen, das darin wohnte und mit dem sie Kontakt aufnahmen. Alles haben die Künstlerinnen nachgebaut, um ihre neugierigen Blicke in die Wohnung der Familie auf der anderen Seite nachzuvollziehen: Tisch und Stühle stehen vor einem Fenster mit Lamellen wie im Zimmer ihrer Großtante, und an der Wand gegenüber zeigt ein flächendeckendes Foto das Nachbarhaus und am Fenster das Mädchen.

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Sound: Bertil Mark

unspeakable home

unspeakable home

Wandinstallation

MyBerlinWall, Berlin, 2011

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Photo: Claus Rottenbacher

(…) Der Hinweis auf die formale Ähnlichkeit der Fenstergestaltung im Istanbuler Haus der Großmutter und im Berchtesgadener Berghof Adolf Hitlers war Ausgangspunkt für eine Recherche, deren künstlerisches Resultat die in Berlin gezeigte Installation unspeakable home ist.9unspeakable home ist zugleich auch der Titel der hier vorliegenden Publikation, der somit vierten künstlerischen Umsetzung der gleichen Geschichte. Für dieses Buch hat Anny Öztürk einen Zyklus von Zeichnungen geschaffen, der illustrierend sich eng mit den Motiven der Erinnerungserzählung verbindet. Ganz anders als in den Installationen, folgen hier die Bilder den im Text beschriebenen Ereignissen und Gegebenheiten mit großer Nähe und Ausführlichkeit. Text und Zeichnungen ergänzen sich unmittelbar und verdichten die unterschiedlichen Aspekte der Geschichte zu einer beinahe filmischen Einheit.

Die Berliner Installation wurde eigens für eine Ausstellungswand im Ambiente einer Charlottenbuger Privatwohnung konzipiert.10 Auf der wandfüllenden schwarz/weiß Photokopie, einer photogra-phischen Interieurdarstellung, ist neben einer Zeichnung und zwei Gemälden ein Leuchtschriftzug angebracht. Dieser überschreibt die Abbildung mit den Worten unspeakable home. Vor der Wand stehen in Kunststofftöpfen Holzlattenkreuze, an denen an Kabeln und aus Folien ausgeschnittene Gebilde charakteristische Blattformen jener bekannten Zimmerpflanze nachahmen. Es handelt sich um freie Nachschöpfungen der Monstera Deliciosa, die hier ganz in schwarz gehalten sind. Dieser Wandbereich wird ergänzt durch einen auf einer Tür angebrachten Text sowie um einige weitere Zeichnungen und ein Gemälde.

Die Wand, die das Werk in Anspruch nimmt, wird zur Decke hin von einer weiß gefassten Stuckleiste begrenzt, in der sich Muschelformen, florale Motive und Trauben in endloser Reihung wiederholen. Zum Boden hin ist eine weiße Profilleiste sichtbar, welche die Wand zum hellen Holzdielenboden abschließt. Auf der mit weiß gestrichener Raufaser tapezierten Wand befindet sich außerdem eine ganz in weiß gefasste schlichte Holztür mit einem Behelfsrahmen der Nachkriegszeit. Von der Decke des Raumes hängt eine Emil StejnarDeckenlampe, darunter steht ein Esstisch der Jahrhundertwende mit vier Stühlen von Charles Eames. Wie im Stuck mit dem Traubenmotiv bereits angedeutet, handelt es sich hier um ein Esszimmer. Dessen Tisch stammt aus der Zeit der Erbauung des Hauses. Das Design der Stühle und der Lampe ist in die späten vierziger und die fünfziger Jahre zu datieren und befindet sich damit rein zeitlich in einer verwirrenden Nähe zum auf der Wand abgebildeten Interieur.

Anders als in den vorangegangenen Installationen kommt die Berliner Arbeit ohne eine Lichtprojektion aus. Der Lichteinfall und die auf den Raum übergreifende Schattenbildung des Sprossenfensters werden stattdessen mit der wandfüllenden Reproduktion eines alten schwarz/weiß Photos in die Darstellung eingebracht. Zu sehen ist ein Fenster, das dem im Haus der Großmutter ähnelt und welches sich zudem an der architektonisch übereinstimmenden Stelle befindet. Auch hier sorgt Lichteinfall für den in der Geschichte beschriebenen langen Schatten und selbst eine Monstera ist zur Stelle. Im Raum gruppiert sich eine aus Sesseln, Armstühlen und Sofa bestehende Sitzgruppe um einen Tisch. Eine Stehlampe und ein Bild an der Wand komplettieren die Raumansicht. „Toto, I’ve a feeling we’re not in (Istanbul) anymore.“11Bei dem Interieur, das hier als bildlicher Stellvertreter für das Wohnzimmer der Großmutter in Istanbul eintritt, handelt es sich um den so genannten „Wintergarten“ des „Berghofs“, Adolf Hitlers Refugium in Berchtesgaden.12

In symbiotischer Ergänzung zum schwarz/weiß der als Tapete fungierenden Großphotokopie erscheinen die ganz in schwarz gehaltenen Monstera-Darstellungen. Es handelt sich hier um skulpturale Gebilde, die in ihrer Gestaltung Pflanzlichkeit zitieren und dies in einem formalen Detail gar auf die Anmutung einer botanischen Bestimmbarkeit hin präzisieren.

Aus großen einheitlichen Kunststoffblumentöpfen erwachsen schwarz lackierte Dachlatten, die in ihrem oberen Abschnitt mit einem locker angenagelten, ebenfalls schwarz lackiertem kürzeren Lattenstück zu einer Kreuzform finden. An einem mehr oder weniger bewegt gestaltetem Gewirr schwarzer Kunststoffkabel sind mit schwarzem Isolierband schwarz lackierte Kunststofflappen befestigt, die in Form von Scherenschnitten die Blattform einer Monstera Deliciosa aufnehmen. Diese Blattlappen zeigen sich selten geglättet, meist knicken oder rollen sie sich zu der einen oder andern Seite zusammen. Ihr hochglänzender Lackanstrich scheint auf seltsame Weise brüchig oder fleckig. So brechen und spiegeln sie einfallendes Licht gleichermaßen. Jedes dieser Blätter ist individuell gestaltet und geschnitten. Jedes einzelne dieser Topfgebilde ist mit unterschiedlich langen Kabeln und einer unterschiedlichen Stückzahl von Blattabbildungen ausgestattet. Damit hat jedes dieser merkwürdigen Schattengewächse eine eigene Gestalt und „Wuchs“- Dichte. Diese grob gezimmerten Lattenkreuze mit dem spröden Charme eingetopfter Zimmervogelscheuchen erreichen in Bezug auf ihre Darstellung pflanzlicher Motivik ein nicht unerhebliches Maß an Abstraktion. Und doch lässt sich ihnen zugleich ein gewisser, durchaus erstaunlicher Realismus nicht absprechen. Denn das, was an ihnen den Eindruck des Spärlichen und leicht Vergammelten erweckt, erinnert unweigerlich an Gestalt und Charme von über Jahrzehnte vernachlässigte Topfpflanzen, wie sie zum Beispiel in Treppenhäusern und auf Fluren älterer öffentlicher Institutionen zu finden sind. Pflanzliche Mitlebewesen, die in unerklärlicher Beharrlichkeit ihren dramatischen Auftritt als chronisch übersehene Mahnmale einer gänzlichen Abwesenheit jeglicher ästhetischer Empathie zu überleben entschlossen scheinen. Drei solcher Monsteras finden sich in der Berliner Installation. Zwei niedrig gewachsene Exemplare rahmen die Tapete von links und teilen sich eine elektrische Weihnachtsbaum-Lichterkette. Rechts außen erscheint ein besonders hochgeschossenes Exemplar, das eine ausufernde Ranke mit spärlicher Beblätterung unterhalb der Decke über die Tapete wuchern lässt. Über eine eigene Lichtquelle verfügt diese Monstera nicht.

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Diese Gebilde, der Tapete vorgelagert, vermitteln die Bildlichkeit der Installation in den Umgebungsraum hinein. Als wichtiger Protagonist der Erinnerungserzählung binden sie mit dem ganzen Gewicht ihrer dreidimensionalen Präsenz das Tapetenmotiv in die Erzählung ein. Ironischerweise findet das hochgeschossene Exemplar zu einem beinahe symbiotischen Auftritt mit der Abbildung eines Monsteragewächses, das als Teil des Berghofinterieurs seinen Auftritt als zweidimensionale Erscheinung hat.

Auf der Tapete angebracht erscheint oberhalb der beiden zusammenstehenden Monsteras die Leuchtschrift als ein weiteres prägnantes dreidimensionales Element. Eine rote LED Leucht-stoffröhre mit schwarzen Endkappen ist in horizontaler Ausrichtung direkt auf der Tapete angebracht. Davor, in einigem Abstand, sind auf langen Metallnägeln drei Stücke Tonpapier befestigt. Diese sind unterschiedlicher Größe mit zum Teil geschnittenen, zum Teil gerissenen Kanten. Das größte Papier ist an seiner Oberkante von derart irregulärer Form, dass der Eindruck nahe liegt, hier handele es sich um das kreative Recycling von Papierabfällen. Doch folgen die Stücke formal so schlüssig aufeinander, dass hier eher von einer das Provisorium simulierenden Gestaltungsstrategie auszugehen ist. Die schwarze Tonpappe ist aufwändig dergestalt perforiert, dass sich in schwungvoller „Schreibschrift“ die Worte „unspeakable home“ lesen lassen. Je nach Betrachterstandort ist dieser Schriftzug unterschiedlich deutlich lesbar. Hier fördert eine gewisse räumliche Distanz die Klarheit in der Anschauung. Das rote Licht der Röhre illuminiert nicht nur die dem Karton eingestochenen Worte, sie strahlt auch auf die Tapete ab und findet ihren Widerschein an Stuckleiste und Zimmerdecke und ist damit ein entscheidender Farbfaktor innerhalb der Installation. Und so, wie das rote Licht auf das Fenster und die Lichteinfallsdarstellung der Abbildung trifft, hat es seinen Auftritt als ein Installationsinterner Sonnenuntergang, der in illustrativer Funktion mild in den schwarz weißen Raum hineinstrahlt.

Eher zurückhaltend in ihrer Farbigkeit erscheinen die Gemälde und Zeichnungen auf der Wand. Das größte Gemälde auf der Tapete hängt in Überschneidung mit dem großen längsformatigen Bild an der Wand des „Berghofes“. Es zeigt Sibel Öztürk im pflanzlichen Dickicht des großelterlichen Vorgartens, die einen aufgeschreckten Blick direkt auf den Betrachter richtet. Schräg darunter erscheint in einer stark ornamentalen Schwarz-Weiß-Darstellung das Motiv der zweijährigen Anny, im Sessel sitzend, Monstera zerpflückend, eben so, wie es auch Eingang in die Illustrationen des Buches gefunden hat.

Eine weitere, kleinformatige Malerei findet sich zwischen Monsteras und Leuchtschriftzug. Zu sehen ist eine sehr freihändig gemalte, intime Darstellung von Vater und Großvater, die auf dem Balkon des Hauses an eine Brüstung gelehnt in ein Gespräch vertieft scheinen.

Ihre Begrenzung im Kontinuum der Ausstellungswand findet die Tapete mit dem Türrahmen. Auf der Tür selbst ist ein Ausdruck des Textes angebracht. Ein weiteres Gemälde zeigt den Großvater als Jäger mit Flinte in der einen und einem Bündel von erlegtem Federvieh in der anderen. Zwei farbig gefasste Zeichnungen zeigen die Großeltern als Ehepartner in jungen Jahren. Auf einem der Bilder erscheint in der Mitte ein kleines Mädchen, ihre Tochter, die Mutter der Künstlerinnen. Als Vorlage für diese Bildmotive handelt es sich um Photographien, die im Haushalt der Großeltern an den Wänden des Wohnzimmers hingen. Der Textausdruck und diese Bilder erscheinen im Verhältnis zu der komprimierten Installation von Tapete, Monsteras und Leuchtschriftzug wie ein beigefügter Anmerkungsapparat, der zusätzliches Material zum Hauptteil der Arbeit liefert.

Die dominanteste visuelle Erscheinung dieser Installation ist zweifelsohne die Tapete und ihr Motiv. Das abgebildete Interieur des „Wintergartens“ des „Berghofs“ ist mehr als nur ein Motiv des „Schöner Wohnen“ im „Dritten Reich“. Publiziert in Bildbänden und auf Postkarten dokumentiert es einen Anspruch auf repräsentative Herrschaftsinnenarchitektur. Im Gedrungenen und Breitem von Formen und Mustern sollen Gemütlichkeitssinn und Gediegenheit zum Ausdruck kommen. Der Tradition verbundene Formen und Materialien gelten als gestalterische Suggestion von Bodenständigkeit und „Heimat“-Verbundenheit. Um einen runden Tisch mit weißer Decke und Feldblumenstrauß in dunkler Tonvase gruppiert sich ein Sitzensemble bestehend aus einem Sofa und zwei Sesseln sowie drei hölzernen Armlehnstühlen. Die Sitzfläche der Stühle ist mit dem gleichen Stoff bezogen wie Sofa und Sessel, was die Zusammengehörigkeit des auf den ersten Blick disparat wirkenden Sitzgruppe betont. Was zunächst irritiert ist das sehr unterschiedliche Höhenverhältnis der Sitzflächen und deren Beziehung zum Tisch. Dieser lässt die Polstermöbel noch tiefliegender und gedrungener erscheinen. In Bezug auf die Stühle jedoch erscheint die Tischhöhe als stimmig. Man muss sich die Sitzmöbel nur einmal besetzt vorstellen, um die diesem Ensemble zugrunde liegende Regie zu verstehen. Diese Anordnung erlaubt zwei bei Bedarf unabhängig voneinander operierende Tischrunden. Denn auf der Stuhlebene lässt sich ohne weiteres über die Köpfe der tiefergelegten Polsterebene hinweg kommunizieren. Eine Kommunikation zwischen den Ebenen bedingt ein Aufblicken, das mit einem Blick von oben herab beantwortet wird. Hierarchische Ordnungen deutscher Gemütlichkeit.

Zu den unübersehbaren stilistischen Beklemmungen kommen in diesem Zusammenhang die unleugbaren historischen. Dieser Raum ist nicht ohne seinen Hausherrn, dessen Zeit und Wirken zu denken. Entstehung und Gestaltung des Raumes, die Dauer seiner Existenz sind unablösbar mit diesen historischen Ereignissen verbunden. Er kann nicht ohne all die anderen Räume dieser Zeit und dieses Wirkens gesehen, verstanden und erinnert werden. Und so finden im Anblick dieses einen Ortes all jene Räume ihren unweigerlichen Nachklang im Bewusstsein des Betrachters.

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Das private Domizil, das Haus der Großmutter in Istanbul, ist längst abgerissen. Eine adäquate photographische Dokumentation des Wohnzimmers liegt nicht vor. Stattdessen greifen die Künstlerinnen auf die Darstellung eines halböffentlichen Repräsentationsraumes eines Staatsmannes als Stellvertreterbild für ihre persönlichen Erinnerungen zurück. Ein verlorenes Interieur, das kein Abbild hinterlassen hat, wird darstellbar unter Zuhilfenahme eines ebenfalls verlorenen Interieurs, von dem es allerdings Bilder gibt. In diesem Prozess erfährt das historische Bild zunächst eine mehrfache Überblendung. Die erinnernden Künstlerinnen können in Konzentration auf einige prägnante Übereinstimmungen gestalterischer Details wie die Fenstergestaltung, Lichtführung und Schattenbildung, den erinnerten Raum im abgebildeten wieder erkennen. Der Betrachter kann zunächst unter dem Eindruck der als Installationsbestandteil fungierenden Erinnerungserzählung dieser Sichtweise folgen und Schattenbildung und Stimmung innerhalb des Bildes mit den Schilderungen der Erzählung in Verbindung setzten. Darüber hinaus jedoch bleibt der abgebildete Raum in seiner Gestaltung und seiner historischen Provenienz derartig signifikant und präsent, dass er kaum als eigenständiger Erinnerungsraum übersehen werden könnte, um zur Gänze in der Rolle einer Illustration der Geschichte aufzugehen. Vielmehr behauptet er seine eigene Erzählung, seine eigene historische Prägnanz und Präsenz im kollektiven Gedächtnis.

Das Motiv ist klug gewählt. Denn auch wenn Bilder des so genannten „Wintergartens“ zu den veröffentlichten Räumen des „Berghofes“ zählt, so hat er kaum eine vergleichbare ikonische Prominenz wie etwa die Terrasse, die „große Halle“ und deren Panoramafenster. Trotzdem lässt die Raumansicht in vielen Details recht zweifelsfrei auf den Standort der Räumlichkeit schließen. In der Verortung der Installation in einem privaten Wohnungszusammenhang ist dies ein wichtiger Aspekt. Der spielerisch illusionistisch der Wohnung eingegliederte Raum bedarf eines gewissen Maß an Privatheit, sonst würde die Intimität des gesamten Wohnungszusammenhanges verletzt.

Das Esszimmer, an dessen Wand sich die Installation befindet, bildet das Herzstück einer dreiteiligen Raumfolge. Mit einem Wohnzimmer ist es durch eine der Wand unmittelbar gegenüber gelegenen Flügeltür verbunden. Ein Arbeitszimmer wird durch die einfache Holztür der Nachkriegszeit erreicht. Die Hängung der Gemälde und Zeichnungen, der beleuchtete Schriftzug und die mächtig getopften tief schwarzen Monsteradarstellungen binden die Installation schlüssig in die Gesamtgestaltung des Wohnbereiches ein. Auch hier dominiert eine sehr dichte Sankt Petersburger Hängung, die sich, ebenso wie die Installation, gleichfalls nicht auf die Wände beschränkt sondern mit Objekten in die Tiefe des Raumes fortgesetzt wird. Die Installation erscheint hier also nicht etwa als prominenter Fremdkörper innerhalb eines ‚white cubes’, sondern als ein mit der Syntax der Wohnungsgestaltung korrespondierendes Element.

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Die Einbindung in den Wohnungszusammenhang spielt auch in der Anlage der Darstellung selbst bereits eine wichtige Rolle. Die grobe Auflösung der photographischen Abbildung des Berghofinterieurs führt in der Nahansicht zu einer entschiedenen optischen Verunklärung des Motivs. Dies begünstigt in der Anschauung der Arbeit zunächst eine Konzentration auf die Lektüre des Textes und eine nähere Betrachtung der zum Teil sehr kleinteiligen Zeichnungen, von denen eine mit eigenem Text ein ganz besonders bildnahes Studium erfordert. Schon die Betrachtung der Gemälde wie auch des beleuchteten Schriftzuges laden zu einer größeren Distanznahme innerhalb des Raumes ein. Der Gesamteindruck des Werkes, vor allem aber die Wahrnehmung des reproduzierten Tapetenmotivs, verändert sich noch einmal grundlegend, wenn man durch die Flügeltür tritt und die Wand aus dem Wohnraum heraus wahrnimmt. In der Distanz schwindet die Verunklärung des schwarz/weiß Motivs und wie in einer Fokussierung sieht man den abgebildeten Raum in deutlicher Klarheit, was ihm gegenüber den auf ihm angebrachten Bildern zu einer ganz neuen Tiefe und Präsenz verhilft.

Aus dem anderen Raum heraus gesehen wird die Berghofabbildung aber auch ganz anders innerhalb der wohnungseigenen Abfolge von Räumlichkeiten wahrnehmbar. Das Interieur des „Wintergartens“ erscheint nun nahezu illusionistisch eingebunden. Auf den Esstisch mit Lampe und Bestuhlung im Zentrum folgt als angrenzende Zimmereinheit die Berchtesgadener Sitzgruppe mit der scheinbar gleichen Logik wie das Charlottenburger Sofa und Sesselensemble. Dieser „andere“ Wohnraum verhält sich spiegelbildlich zu dem, in dessen Mitte man sich befindet. Eine solche Wahrnehmung erschließt den abgebildeten Raum als integralen Bestandteil der eigenen Umgebung auf der Basis des gemeinsamen Nenners eines privaten Interieurs. Solchermaßen in den Blick genommen, erscheint der „Berghof“ als ein innerhalb der Wohnung zugänglicher Raum.

Solch optisch räumlich vorstellbar gemachte Vereinnahmung hat allerdings mehr als nur eine unangenehme Konsequenz. Zum einen hört man nicht auf, auch im Berghof zu sein, wenn man sich in dieser Wohnung aufhält. Zum anderen befindet sich das der großen Terrasse zugewandte Fenster im Anschluss zu der ins Arbeitszimmer führenden Tür. Dies suggeriert, folgt man dieser Vorstellung räumlicher Präsenz, dass, öffnet man diese Tür, man sich ebenso folgerichtig wie unweigerlich an eben dem Ort befinden würde, der den Paladinen des Dritten Reiches als große Bühne für Führerbegegnungen gedient hat. Eva Braun hat das umtriebige Geschehen jener berühmten Terrasse auf etlichen Metern Farbfilm sorgsam für die Nachwelt dokumentiert. In Berlin aber nun Himmler und Heydrich etwa immer wieder aufs Neue hinter dieser Tür befürchtend vermuten zu dürfen, ist nun wahrhaftig eine eher unzumutbare Vorstellung!

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Das mit der Erinnerungserzählung aufgerufene großelterliche Wohnzimmer hat eine eigene Präsenz, deren visuelle und erzähleri-sche Rückversicherungen Texte, Gemälde und Zeichnungen sind. Aus dieser Perspektive zeigt das Tapetenmotiv einen Raum in Stellvertreterfunktion und die solchermaßen auf formalen räumlichen Übereinstimmungen basierende Motivwahl ist zunächst einmal ein provokativer Akt. Er beinhaltet die Herausforderung, all das zu übersehen, was den historischen Kontext und die kulturelle Signifikanz des abgebildeten Ortes tatsächlich ausmacht. Eine solche Aufforderung ließe sich als eine ironisch anarchische Anleitung verstehen, der das Potential innewohnt, eine befreiende Wirkung auf den eigenen Blick auszuüben. Konterkariert wird dies jedoch in der Art und Weise, in der solch historischer Raum in das Wohnungsinterieur eingebunden wird, womit sogleich dem kreativen Akt willentlicher Befreiung mit dem ganzen bedrückenden Gewicht historischer Präsenz jeglicher Spielraum zur Entfaltung genommen wird.

Erinnerungsraum und historisches Motiv überlagern sich, ohne je ineinander aufzugehen. Vielmehr verbinden sich die in einer anderen Kultur und Geographie angesiedelten Erinnerungen mit dem historischen Erbe eines Landes, in dem erinnert wird. In ihrer Überlagerung werden beide Motive aufgerufen und behalten ihre eigene Präsenz. Spätestens hier wird deutlich, dass, fehlte dieser Aspekt der kulturellen Differenz, die hier entwickelte Strategie der Erinnerungsvermittlung gänzlich unerträglich wäre.

Einen Raum erinnert man nicht unbedingt seinen realen architektonischen Gegebenheiten gemäß, sondern aufgrund von Eindrücken und Gefühlswerten.13 Ebenso ist, um ein räumliches Erinnerungsbild aufzurufen oder in der Darstellung eine Form zu geben, keine akkurate Nachbildung des historischen Originalraums nötig. Es reicht als einen pointierten Übersetzungsakt eine Szene zu entwerfen, die „auf dem Hintergrund einer dunkel gewordenen und verwischten Vergangenheit ein einzigartig lebhaftes Bild“ heraufbeschwört.14 Entsprechend der kindlichen Erinnerung, in der bestimmte Gegenstände und Personen eine dominierende Rolle spielen, reicht es, mit einzelnen Objekten, einigen prägnanten Aspekten das Erinnerungsbild eines Ortes nach außen vermittelbar entstehen zu lassen.

Im Fall der Berliner Installation ist es das ähnliche Fenster, an der gleichen Stelle des Raumes positioniert, der wieder erkannte Licht- und Schatteneinfall, die Präsenz einer Zimmerpflanze gleicher Gattung und für Anny Öztürk und diejenigen in ihrer Familie, die mit jenem Raum im Haus der Großmutter vertraut sind – und nur für sie – ist der Erinnerungsort auf solche Weise mit diesem Bild präsent.

Für alle anderen Betrachter hört das Bild nicht auf Hitlers „Berghof“ abzubilden – mit all dem Bedrückenden, was dieser Ort in seiner Gestaltung und seiner historischen Bedeutung vermittelt. Die Art und Weise, wie sich die Raumdarstellung in das Raumkontinuum der Wohnung eingliedert, bleibt Herausforderung und Zumutung. In der Überblendung eines kollektiven Erinnerungsortes mit einem Motiv individueller Erinnerungen erschließen sich völlig neue Bedeutungsebenen. Darüber hinaus kann hier mit einer lustvoll provokanten Geste und einem großen Maß ironischer Distanznahme von einem ‚Zuhause’ in zwei Kulturen gesprochen werden – in eben der Form, die mit Fug und Recht das Unaussprechliche für sich in Anspruch nimmt.

Schließlich ist es innerhalb der Installation der beleuchtete Schriftzug, der die disparaten Elemente zusammenhält. Er fungiert als ein Fixpunkt, auf den hin sich die verschiedenen Aspekte der erzählerischen Strategien und Inhalte der Installation entwickeln und konzentrieren. Er bezeichnet den Punkt, an dem sich das Unaussprechliche und das Zuhause verbinden, um das Unaus-sprechliche dieses Zuhause sichtbar werden zu lassen. Dort, wo man sich als heimisch anerkennt in der Überforderung und der Zusammengehörigkeit des Disparaten, ist es möglich, Zuhause zu sein in mehr als einer Kultur, mehr als einer Geschichte – mag solche Vielfalt gegeben sein, gewählt oder gesucht. „Zuhause“ wird erkennbar als der eine oder andere Ort, an dem eben solche Unaussprechlichkeit zur Heimatgefühle vermittelnden Kommunikationsaufforderung wird.(…)

Rafael von Uslar

9 „unspeakable home“ ist ein weiteres Zitat aus Samual Becketts Libretto Neither, siehe Anm. 5.

10My Berlin Wall, Nur nach Voranmeldung, My.Berlin.Wall@gmx.de

11 „Toto, I’ve the feeling we’re not in Kansas anymore“ ist eine der berühmtesten Einlassungen von Dorothy zu ihrem Hund Toto nach der Ankunft in Oz, in: The Wizard of Oz, MGM, 1939.

12 Zur formalen Nähe der Fenster im Berghof und im Haus der Großmutter siehe: Rafael von Uslar, Der lange Schatten des Fensters der Nadiye Özdöl, in: Anny und Sibel Öztürk from inner to outer shadow , hg. Schrader Stiftung und Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt, 2010, S.9/10.

13 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt, 1985. „… was man oft von einem Haus, in dem man gelebt hat, in Erinnerung behält, ist weniger die Aufteilung der Zimmer, wie man sie auf einem archtitektonischen Plan festhalten könnte, als nach Eindrücken…“ „ Ebenso gewinen die verschiedenen Zimmer eines Hauses, bestimmte Ecken, Möbel … irgendwie einen Gefühlswert ….“ S.142.

14 Maurice Halbwachs, Ebd. S. 211/212.

Sound of the City

Sound of the City

Interaktive Multimedia-Installation

Playing the City II, Schirn Kunsthalle, 2010

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New York, London, Berlin, Istanbul und Frankfurt sind die 5 Städte, in denen die meisten Freunde der beiden Künstlerinnen leben und auch die Ausgangspunkte einer Sound- und Videoinstallation, die im Rahmen von PLAYING THE CITY 2erstmals gezeigt wird. Den kartografischen Daten der Orte werden dabei Töne zugeteilt und in eine quasi städtetypische Musik verwandelt, die, nach den fünf Städten unterteilt, an fünf aufeinander folgenden Tagen zu hören sein wird. Auf zahlreichen gespannten Bändern und einer Pappewolke sind, zusätzlich zu den Sounds, abstrahierte Bilder der Städte zu sehen, die durch die Beteiligung der Besucherinnen und Besucher beeinflusst und verändert werden können.

sound of the city (2)

New York, London, Berlin, Istanbul and Frankfurt: are the 5 cities with the most facebook-friends of the two artists, and the starting points for a sound and video installation, to be shown for the first time in Playing the City 2. Cartographic data on these places will be assigned musical notes and transformed into a sort of music appropriate to each city, which can be heard on five successive days. To accompany the sounds, abstracted images will be displayed on stretched wires and carboard clouds. These images can be influenced and modified with the involvement of the visitors. Anny and Sibel Öztürk see their work in the context of their own experiences and memories, while being embedded in a wide network that connects them with people and places where they live and work. Their works often have the appearance of stages, where their friends and those who would like to become their friends are invited to extend the network in which the two artists locate their own identity.

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From inner to outer shadows II

From inner to outer shadow II

Multimedia-Installation im Wohnzimmer der Familie Richter

Lichtkunstbiennale, Bergkamen 2010

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Die Installation from inner to outer shadow II ist der Beitrag von Anny und Sibel Öztürk für die 1. BIENNALE FÜR INTERNATIONALE LICHTKUNST Lichtkunst im Wohnzimmer, 2010
Standort dieser Arbeit ist ein Privatraum, ein Wohnzimmer.


Einer Wand mit Fenster ist mit einigem Abstand eine zweite Wand aus Rigipsplatten vor gestellt. In ihrem äußeren Erscheinungsbild ist diese Wand der, die sie verbirgt als möglichst exakte Kopie angepasst. Der Zwischenraum steht der, für die Installation nötigen Technik zur Verfügung.
Statt einen Ausblick zu gewähren, wie das Fenster der Originalwand, fungiert sein Doppel als Quelle eines externen, szenisch gestalteten Lichtereignisses. In diesem, einige Minuten dauernden Moment, strahlt das Licht- Bild einer untergehenden Sonne auf den Raum ab. So ereignet sich ein Licht –und Schattenspiel, das sich langsam durch den Raum bewegt. Zunächst einmal sind es die hier vor – gegebenen Gegenstände, deren Schattenwurf nachvollzogen werden kann. In diesen Ablauf jedoch greift eine Schattenerscheinung ein, deren Gegenstand nicht im Raum zu finden ist. Sichtbar wird der Anblick einer großblättrigen Topfpflanze der Gattung Monstera deliciosa, genannt Fensterblatt, vor einem rasterartigen Fenstergitter.
Das Bild der durch den Raum wandernden Licht und Schattenstrahlen ist mit dem der Pflanze verbunden in einer Jugenderinnerung der Schwestern an ihre Urgroßmutter. In ihrem Auftritt in fremdem Raum weißt sich diese Erinnerung über den Schatten der im Raum nicht präsenten Pflanze als individuelles Erinnerungsbild nach. Für die BetrachterInnen eröffnet sich die Möglichkeit ein eigentlich tageszeitlich und Standort gebundenes Ereignis
außerhalb aller äußeren Bedingtheiten zu erleben. In der Wirkung des Lichtes auf den Raum werden eigene Erlebnisse und Erinnerungen abrufbar. Mit dem Auftreten des Pflanzenschattens eröffnet sich eine zweite Ereignisebene auf der etwas geschieht, was auch die vorgefundenen räumlichen Gegebenheiten verlässt und zu einem eigenen Erzählungsraum wird. Hier wird deutlich, dass das beobachtete Ereignis als Bild für das Erinnerte
eines Anderen einsteht.

Die BetrachterInnen befinden sich in den Privaträumen anderer Menschen, die ihre anonymen GastberInnen sind, so wie sie deren anonymen Gäste. Dies allein schon stellt eine Intimitätsverletzung dar, die dem Ausstellungsbesuch voraussätzlich ist. Dem aufgesuchten persönlichen Lebensumfeld ist darüber hinaus das Bild einer persönlichen Erinnerung eingestellt worden. Die Teilhabe an dieser persönlichen Erinnerung eines Anderen, stellt einen zusätzlichen Einbruch in eine weitere Privatssphäre dar. Auf dieser Ebene ergänzen sich Ausstellungskonzeption und die Arbeit in direkter Weise.
Das Lichtereignis dieser Installation verbindet gegebenen Raum mit Erinnertem und darin einen Ort in Deutschland mit einem Ort in der Türkei. In diesem Aufeinandertreffen überschneiden sich verschiedene Zeitachsen so, wie sich in der Wahrnehmung der Arbeit verschiedene Ebenen des Privaten und des Öffentlichen miteinander verschränken.


From inner to outer shadow II steht in engem Zusammenhang mit einer Reihe von Erinnerungsbildern gewidmeten Arbeiten von Anny und Sibel Öztürk. Dazu gehören das Familienalbum und die Installation Behind the Wheel, vor allem aber das Rear Window und Lido. Letztere Installationen arbeiten mit den unterschiedlichsten Mittel um den BetrachterInnen eine Teilhabe an den Erinnerungen der KünstlerInnen möglich zu machen. Die Wahrnehmung dieser Arbeiten ermöglicht es die fremde Erinnerung als eine selbst erlebte der eigenen Erinnerung anzueignen.


Rafael von Uslar

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10
die luft kühlt langsam etwas ab, die stadt kommt ein wenig zur ruhe. das sonnenlicht schwingt sich friedlich durch
die hohen fenster ins haus, streift dabei das gitterartige netz des fenstergerüstes, erreicht die kissen, die auf dem,
am fenster stehenden divan aufgereiht sind, berührt fast jedes einzelne blatt der zimmerpflanze, geht die linien
des beistelltisches ab und endet als zauberhaftes licht -und schattenspiel auf den bildern und der tapete an den
wänden und auf dem ornamentalen muster des seidenen orientteppiches auf dem boden.
ich lasse die goldenen strahlen der abendsonne durch meine geschlossenen lider dringen und empfange ihre
warmen berührungen auf meinem gesicht. und ich brauche die augen nicht zu öffnen, um das wohnzimmer
meiner grosseltern, das haus meiner oma, zu beschreiben. es ist eingetaucht in goldenes licht. von zwei seiten
dringt dieses üppig und hell hinein.
die fensterfronten recken und strecken sich von einer wand zur anderen und sind fast bodentief und deckenhoch.
das schachbrettartige muster der schatten, rastert den raum und die sonne scannt jeden gegenstand, der sich ihr
in den weg stellt.
es ist später nachmittag in istanbul, kurz vor der blauen stunde, kurz bevor die sonne noch ein letztes mal mit
aller kraft aufleuchtet für diesen tag, dann beinahe brennend, feuerrot am horizont verschwindet und das licht
hinter sich ausmacht. meine lieblingszeit.

ich liebe diese besinnliche ruhe, die für kurze zeit, der hektik des tages die stirn bietet und den atem innehalten
lässt. alle kinder rennen heim, die väter fahren nach hause zu ihren familien, das geräusch von schuhgeklapper
verringert sich für einen augenblick, denn länger dauert sie nicht an, diese ruhige minute. dann nimmt alles
wieder seinen gewohnten lauf.
mein vater hasst diese zeit des tages. er hasst, dass alle kinder heim zu ihren müttern rennen, dass die väter von
der arbeit zurückkehren und am tisch mit der familie zusammenkommen, um gemeinsam das abendessen
einzunehmen. er hasst, dass sich das geräusch von schuhgeklapper verringert, um den abend einzuläuten. denn
dann bringen die mütter ihre kleinen zu bett und lesen ihnen noch vor, streicheln ihnen über das haar und decken
sie fürsorglich zu, geben ihnen einen gutenachtkuss. „morgen früh, wenn gott will, wirst du wieder geweckt“. ein
kurzer blick der mutter noch durch den schmalen türspalt, dann dringt leise das licht aus dem flur in das
kinderzimmer und verspricht geborgenheit.
doch diese mutter war abwesend im hause meines vaters. der spalt in der tür blieb dunkel. kein versprechen.
keine gewissheit.
ich öffne die augen. die sonne ist weitergewandert und sie erreicht meine lider nicht mehr.
das köstliche fensterblatt jedoch, die grosse zimmerpflanze, die durch das halbe wohnzimmer wächst, wirft seine
schatten nun an die wand und auf den alten sessel, der neben dem divan steht. es ist die lieblingspflanze meines
opas, die er jahrzehntelang wie seinen augapfel gehütet hat. Ich hatte sie als baby fast zu grunde gerichtet, auf
jenem sessel sitzend, ihr die blätter abgerissen. und mein opa hatte dabei zugeschaut und sich an meiner freude
erfreut. das beweisfoto klebt im familienalbum und ermuntert meine eltern, mir jedes mal diese geschichte zu
erzählen, wenn wir das dicke, braune buch in den händen halten.
die stadt atmet weiter, der zauber ist gebrochen, die strasse zeichnet mit langen schatten ein bild ihrer
unmittelbaren umgebung.
ich höre die stimmen meiner mutter und der urgrossmutter aus der küche. Sie bereiten auf dem feuer des
gasherdes das abendessen zu und meine uroma gibt ihr wissen an die enkelin weiter.
meine kleine schwester sitzt auf dem schoss des opas, der mit meinem vater auf dem balkon das allabendliche
pläuschen hält. Sie reden über politik, sport und über alte zeiten. meine schwester schaut opa gross an und zieht
ihn an seinem weissen, osmanischen schnurrbart.
bevor die sonne ganz verglüht ist, renne ich schnell raus, laufe durch die eingangshalle, wo die glaskanister mit
trinkwasser stehen, vorbei an der garderobe und dann die grosse aussentreppe runter, in den riesigen garten, um
dem tag lebwohl zu sagen. es duftet nach blumen und nach obst und erde und nach meer. süsslich und satt riecht
es.
der simitverkäufer läuft an unserem gartentor vorbei und bietet seine sesamkringel mit einem fast gesungenen ruf
an: „siiiiiimiiiiiiiiiijiiiit, siiiiimiiiiiijiiiiit…“, katzen schleichen durchs tor in den garten, auf ihrem weg zu ihren
schlafplätzen oder sitzen auf der mauer und lecken ihre tatzen, menschen eilen noch schnell zum bakkal an der
ecke, um brot und andere lebensmittel zu besorgen, bevor es nach hause geht.
das licht spendet nun die strassenlaterne, die im fliegenden wechsel mit der sonne den versuch unternimmt, den
platz vor unserem haus und die strasse zu erhellen. ihr licht leuchtet schwach auf die obstbäume im garten,
verfängt sich in deren blättern und früchten und verliert sich in dem dunklen gewirr der sträucher. ich stehe jetzt
mit dem rücken an den noch warmen gitterstäben des eisernen tores gelehnt und schaue aus dem garten auf das
hell erleuchtete fenster des hauses meiner oma hoch. Nun dringt das helle, warme licht der lampen aus dem
wohnzimmer durch das hohe fenster, das die gesamte vorderfront des hauses einnimmt, hinaus auf den balkon,
hinaus in die stadt, wie ein leuchtturm und leuchtet mich heim.
nun sind es die inneren, die zu den äusseren schatten werden, die sich auf der fassade des hauses spiegeln, um
dann in dem dichten und dunklen gewirr der pflanzen und sträucher des gartens zu verschmelzen und
zuverschwinden.
auch mich nehmen sie auf in die dunkelheit.


Anny und Sibel Öztürk

From inner to outer shadows (On the road from somewhere)

From inner to outer shadows

Multi-Media-Installation, Schader Stiftung, Darmstadt

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Alle Photos: Wolfgang Fuhrmanek

Alle Photos: Wolfgang Fuhrmanek

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Vorspann: Eine Erinnerungserzählung


In der Ausstellung „from inner to outer shadow“, die zum Titel eine Zeile aus dem Libretto „Neither“ von Samuel Beckett für Morton Feldmans gleichnamige Oper nimmt, zeigen Anny und Sibel Öztürk zwei neue Installationen. „On the road from somewhere“ und „Mashrabiya“ nehmen Kindheitserinnerungen an das Haus der Großmutter zum Ausgangspunkt, welche als Einführung im ersten Raum der Ausstellung in Form einer Erzählung vorgestellt werden. Die Rede ist von abendlichen Schatten unter einem großen Fenster, beobachtet von einem Diwan aus.
Es ist der Moment der blauen Stunde, die Beruhigung des vornächtlichen Istanbul. Im Zentrum des Hauses befand sich ein Wohnraum, der an seiner Vorder- wie seiner Hinterwand durch große, die Wandbreite einnehmende Fenster charakterisiert war. Hier befand sich auch eine den gesamten Raum durchwachsende Pflanze des Großvaters. Ein ausuferndes Exemplar einer Monstera Deliciosa (Fensterblatt), der ganze Stolz des alten Mannes. Diese bestimmt nicht nur wesentlich die Schattenbilder des Raumes, sie ist auch die herausgeforderte Heldin einer Legende zu einem großen Liebesbeweis. Innerhalb der Familie wird erzählt, dass eine bald achtmonatige Anny, in einem Armlehnstuhl sitzend, eben diese Pflanze mit großer Zielstrebigkeit und
Beharrlichkeit zerpflückt. Der Großvater verharrt beobachtend daneben und lässt das Kind gewähren. Welche langfristigen Konsequenzen diese großväterliche Priorisierung der Kinderliebe über die Pflanzenliebe für die deliciose Monstera hatte ist nicht überliefert.

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Hauptfilm: Das große Fenster


Die Erinnerung an abendliche Fenster- und Pflanzenschatten bildet das Herzstück der Installation von „On the road from somewhere“. In der linken Ecke des Hauptraums der Ausstellung steht über Eck ein silberfarbenes Holzgitter von 5 x 5 Feldern. Dahinter befindet sich ein Scheinwerfer, rechts und links Holztafeln, die ein seitliches Verströmen des Lichtes verhindern. Vor dem Gitter steht eine flache Holzkonstruktion, die scherenschnitthaft eine große Monstera Deliciosa abbildet. Das Licht der Schweinwerfer erfasst Gitter und Pflanzenabbildung und wirft deren langen Schatten auf den Boden des Ausstellungsraumes und auf einen Teil der gegenüberliegenden Wand.
Dieser Aufbau ist kein eigentlicher Anschauungsgegenstand, sondern Projektionshilfsmittel. Das, was zu sehen ist, spielt sich als Schattenspiel auf der gegenüberliegenden Wand ab.
Auf dem Boden liegt ein Perserteppich, vor der Wand entlang stehen Möbelstücke. Auf der Wand befindet sich eine Wandbespannung, davor hängt eine Reihe von Gemälden, die Interieurdarstellungen zeigen. Die meisten Objekte stammen aus der Sammlung des Hessischen Landesmuseums.

Schatten sind immateriell und temporär okkupatorisch. Sie vereinnahmen die Dinge und belegen sie sichtbar mit dunklem Beschlag. So werden die aus der Sammlung gezeigten Objekte hier zuallererst einmal zu Schattenfängern. In einem zweiten Schritt helfen sie den Ort, der von der vorangestellten Erzählung eingeführt und von der Projektion evoziert wird, möblierend zu komplettieren. Alles dient hier erst einmal dem einen Bild: Hier entsteht ein Anklang an das verlorene großmütterliche Haus mit den Mitteln musealer Sammlungsstücke in der Rolle kulissenhafter Stellvertretergegenstände. Darüber hinaus findet sich in dem allen Interieurdarstellungen gemeinen Blick auf Wand und Fenster ein mehrfaches Echo auf das zweite, gegenüberliegende große Fenster des großmütterlichen Wohnraumes.
Dies ist eine Momentaufnahme, die einen Ort aus geographischer und zeitlicher Entfernung heraus auf den Fährten eines Schattens in eine räumliche Gegenwart herbeizitiert. Richtet man jedoch den Blick auf die Bilder und die von ihnen gezeigten Raumsituationen, dann trifft hier das Okkupatorische der Schatten auf das Prekäre westlicher Innenraumdarstellungen. Interieurs zeigen Räume als in sich geschlossen zu denkende Raumfragmente. Aufgebaut wie ein Guckkasten, bildet die Bildoberfläche eine den Raum abschließende virtuelle Wand. Diese jedoch, sichtbar offen, erweist sich auch als das Einfallstor für Besetzungen ganz anderer Art.
Der Schatten der Projektion fällt nicht allein auf die an der Wand befindlichen Bilder als bloße Gegenstände, er fällt auch in sie ein. Standen die Türken vor Wien noch außerhalb der Stadt, so besetzt bei Moritz von Schwind der Schatten einer Istanbuler Topfpflanze die wohlaufgeräumte Schlafstube ganz unmittelbar und gnadenlos.
Weil all diese Bilder bereits von Licht und Schatten handeln, nehmen sie somit den sie treffenden Projektionsschatten als einen weiteren in sich auf. Eine solche parasitäre Schattengestalt allerdings wirft unweigerlich die Frage nach ihrem innerbildlichen Herkommen auf, denn ein Bildraum versteht sich, aller tatsächlichen fragmentarischen Offenheit zum Trotz, immer auch als ein Kontinuum. Den vom Schatten erfassten Raumdarstellungen ist schließlich gemeinsam, dass Fensterschatten und des Großvaters Monstera Deliciosa invasiven Eingang in sie finden. So tritt türkische Abenderinnerungsromantik in deutsche Empfindsamkeit ein.
An einer Stelle schließlich, treffen sich Schattenprojektion und musealer Schattenfänger im Einvernehmen technisch-historischer Verbundenheit: Im Wandbehang findet schattengraphisch seine Abbildung, was William Henry Talbot mit seinen „Lichtselbstdrucken“ als Beitrag zur Geschichte der Photographie beisteuerte. So, wie die Stoffe über viele jahrzehntelange Belichtungsprozesse Abbildungen von dem auf sich tragen, was sich auf ihnen
befunden hat, zeigen sie ganz große Skiagraphie und beantworten so den Schattenbewurf der Installation mit der Gelassenheit der Altvorderen.
„On the road from somewhere“ bezeichnet einen Ort, bezeichnet Menschen und bezeichnet eine Zeit. Identifizierbar wird all dies vor allem durch die im „Vorspann“ vorgetragene Erzählung. Die Projektionsinstallation kann man als deren Abbildung begreifen. Klammert man jedoch diese Erzählung aus und konzentriert sich auf das, was zu sehen ist, dann entsteht ein kompliziertes, und anspruchsvolleres Bild als das einer bloßen Erinnerungsillustration.

Im Bau ihres Hauses sah sich die Großmutter einer Moderne verpflichtet, die in der urbanen Architektur Istanbuls seit den dreißiger Jahren eine bedeutende Rolle spielte und sorgte somit nicht zuletzt über die rezeptive Einheit ihrer Familienbande für den viel längeren und nachhaltigeren Schatten ihres Fensters. Dieser verliert jedoch eben damit zugleich jede Eindeutigkeit örtlicher und zeitlicher Bestimmbarkeit. Was stattdessen sichtbar wird, ist ein vielschichtiges kulturelles Prinzip.
Die breit angelegte vielfächrige Form des wandeinnehmenden Atelierfensters mit Metallrahmen schafft als ein Versatzstück europäischer, urbaner Moderne Anklänge ans Bauhaus und weit darüber hinaus. Noch das ganz große Fenster in Adolf Hitlers Bergresidenz auf dem Obersalzberg gehorcht eben dieser Form, wie Heinrich Hoffmanns berühmtes Photo „Ausblick auf den Untersberg von der großen Halle“ belegt. Anders, als im Haus der
Großmutter in Istanbul jedoch, wo die Schatten als durch den gesamten Raum vagabundierend erinnert werden, bleibt im Haus des großen Okkupators selbst der Schatten des grandiosesten Bergpanoramas noch artig auf dem Beistelltisch.
In seiner Videoinstallation „Das große Fenster“ evoziert Marcel Odenbach eben dieses monumentale Panoramafenster als ein schwarzes Raster, mit dem er den heutigen Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge belegt. Odenbachs Raster und das Öztürksche Gitter ähneln sich nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrem Auftritt als optische Apparate. Und eben darin haben sie ebenso wie die von ihnen abgebildeten Fenstermodelle, ein prominentes historisches Vor-Bild: die Dürersche Zeichenhilfe.
In seiner Proportionslehre von 1528 zeigt Dürer die Illustration vom „Zeichner des liegenden Weibes“. Letzteres liegt drall, nackt sich räkelnd auf Kissen gebettet auf einem Tisch vor dem Zeichner, von diesem durch einen Rahmen mit eingezogenem Gitterraster getrennt. Dessen Doppel liegt als vor- bezeichnetes Blatt vor dem Mann, der ein Peilholz zur Bestimmung des Fluchtpunktes an sein Auge hält. Dieser Rahmen des Rasters ist der den Blick in die Zukunft prägende Apparat der korrekten Perspektive vom rechten Winkel. Laut Peter Sloterdijk produziert der Mensch in seiner Wahrnehmung Horizontlinien und verortet sich damit ständig in einer Kugel.
Außer im urbanen Raum, da beginnt er sich im Quadrat wahrzunehmen. Der moderne Mensch ist kariert. Das Fenster der Großmutter steht damit in einer langen Tradition, deren langer Schatten mindestens von Nürnberg über den Obersalzberg nach Istanbul reicht. Das Interieur in der Kunst macht einen Raum, egal, wie entlegen in Ort und Zeit, egal, wie intim und privat zu einem, dem Blick des Betrachters jederzeit bedingungslos zugänglichen Ort und damit zu einem visuellen Gemeinplatz.
Das, was die Installation als persönliche Erinnerungsbilder zitiert, fällt jenseits aller örtlicher, zeitlicher und individueller Spezifik auch einem Kanon der Bilder anheim, in dem nicht familiäre Verwandtschaftsverhältnisse dominieren, sondern Bildtraditionen.

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Nachspann: Endlich Orient!

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Im letzten Raum der Ausstellung folgt so etwas wie die Außenansicht der zuvor beschworenen Innenräume. Vor der der Projektionsinstallation rückseitigen Wand stehen Keilrahmen mit Folien bespannt und mit Paketklebeband in engen geometrischen Mustern überzogen, sie werden rückwärtig beleuchtet. Hier entsteht ein Mashrabiya evozierendes Ensemble, jene Fenster- und Erkerverkleidungen, die im Muster enger geometrischer Arabesken
Einsichtsschutz bieten und Ausblickmöglichkeiten garantierten. Inmitten dieser orientalischen Gitterphantasien erscheint ein mit bildnerischen Darstellungen bereicherter Vorhang. Überzogen mit einem engmaschigen Wabenmuster bildet er den Hintergrund für ein mit Klebeband „gezeichnetes“ Porträt der Großmutter in Bluse und geblümtem Schal. Ihr Bild wird ergänzt von einem geklebten Sternenmuster, rotfarbig aufgesprühten Silhouetten
und in rotem Garn gefassten Brandlöchern. Die Muster- und Formensprache zitiert vor allem tscherkessische Traditionen neben eigenen künstlerischen Bildfindungen. Die Zeichen werden eingesetzt in einer höchst persönlichen Darstellung von Leben und Leiden einer Großmutter durch ihre Enkel.

Hier scheint das Bild endlich zu stimmen. Orientalisches Fenstermaß erscheint, wieder erkennbar auswärtsspezifisch und obersalzbergfern. Selbst die türkische Großmutter höchstpersönlich tritt in Erscheinung!
Und doch wird ausgerechnet das, was als Bild- und Zeichensprache die Großmutter als Orientalin auszeichnet, zum Verhängnis für diese Blickgewissheit auf das eindeutig Fremde. Denn das Tscherkessische wird hier zum Thema. Die Mutter der Großmutter ist eine Pomakin und da der Vater der Sohn einer Tscherkessin ist, wird die Tochter zu einer tscherkessichen Prinzessin erklärt. Bei ihrer Geburt lebt die Familie längst in Istanbul und auch wenn die Großmutter damit eigentlich eine waschechte Istanbulerin ist, so gilt in der Familienerinnerung bis heute der tscherkessische Herkunftszusammenhang als ihr zugehörig.
Während also die Mashrabiyas als eine Referenz an das Orientalische der Stadt Istanbul auftreten, wird die Großmutter über die Migrationsgeschichte ihrer Familie in die Türkei erinnert. Ihr Geschmack für Fenster nimmt die Migrationsgeschichte der Familie ihrer Tochter nach Deutschland vorweg. Ihre Enkelinnen werden, obwohl in Deutschland sozialisiert, beharrlich zu dem anderen an Migrationserfahrungen geschulten Blick befragt. Ihre Antwort ist das sowohl als auch, ein „to and fro in shadow from inner to outer shadow, … heedless of the way, intent on the one gleam or the other.“
Und sie sprechen darüber, indem sie über ihre Erinnerungen sprechen und deren kreative Überblendungsmöglichkeiten zeigen. Sie sprechen von einem Zuhause von dem man sprechen kann, denn es bedeutet die Beheimatung in mehr als einer Kultur. Und eben darin bezeichnet es eine Lebens- und
Erfahrungsrealität, die für viele Europäer Alltäglichkeit ist.
Spätestens da, wo sich die Schatten treffen, ist ein guter Ort gefunden, das Trennende zugunsten des Gemeinsamen zu vergessen und sich in einem Europa des größeren Rahmens zu begegnen. Dort wird man auf Menschen und Geschichten treffen, wie der von Nadiye Özdöl: Tscherkessische Prinzessin ehrenhalber, Liebhaberin einer Architektur der europäischen Moderne und türkische Großmutter von Anny und Sibel Öztürk aus Offenbach am Main.


Rafael von Uslar

Rear Window

Rear Window (Story No. 6)“

 

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Anny und Sibel Öztürk haben mit „Rear Window (Story No. 6)“ das Wohnzimmer ihrer Großtante aus Istanbul mit allem, was an Mobiliar und Atmosphäre dazugehört, rekonstruiert: Fernseher, Vitrine, 1950er-Jahre-Möbel aus Holzimitat, Deckchen, ein blasser Rokoko-Gobelin und ein Großfoto von einem See inmitten der schneebedeckten Rocky Mountains; es ist düster und heiß; laute Straßengeräusche sind zu hören, Stimmen reden durcheinander, die Vorhänge blähen sich und das Licht eines Autoscheinwerfers streift am Fenster vorbei.

Damit versetzen sie die Betrachter und Betrachterinnen nicht nur ins vermeintliche Istanbul, sondern in erster Linie in eine unheimliche Spannungssituation. Der Titel der Installation trägt den Namen eines Hitchcock-Films „Das Fenster zum Hof“ und in Öztürks „Rear Window“ spukt der Geist der Tante. Anny und Sibel Öztürk verbrachten in dem Istanbuler Zimmer jeweils eine Woche, bevor es mit der Familie ans Meer ging.

Die Installation rekonstruiert insofern kein Zimmer in, sondern eine Kindheitserinnerung an die Türkei, vermittelt durch einen amerikanischen Film. Die scheinbare konkrete Ortsbezogenheit auf Istanbul verdankt sich der Ortlosigkeit der Erinnerung, die sich ständig mit anderen Bildern vermischt. Folgt man der Installation, sind es solche imaginären Projektionen auf die Vergangenheit, die einem seine Identität verschafft.

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es ist dunkel im zimmer und es ist sehr heiss. ich brauche nicht meine augen zu öffnen, um festzustellen, dass meine grosstante einige meter weiter, auf ihrer klappcouch schläft. ich rieche sie. sie riecht nach essig. das schützt vor moskitos, die sich nachts über uns hermachen. sie kommen in massen durch die fenster, die im ganzen haus offen stehen.

keine kühlung in sicht, obwohl vor vielen stunden die sonne untergegangen ist. ich war zeugin. ich sah wie scheinbar das meer sie verschluckte. dabei hatte ich eine cola gezischt. wir hatten in einem der teegärten gesessen, die sich wie perlen an der schnur um die kaimauer reihen.

ich öffne die augen. meine tante atmet gleichmäßig. sie schläft. ich frage mich, warum ich nicht schlafe. was hat mich geweckt? die uhr zeigt mit dem kleinen zeiger auf die vier und mit dem grossen einen oder zwei nach zwölf.

da höre ich es wieder. ein entferntes rufen oder singen.

ich weiss, dieses für meine ohren ungewöhnliche geräusch, hat mich geweckt. es ist ein „ezan“. das heisst, dass ein hoca sich in einem minaret der moschee ganz oben hinstellt und ganz laut betet. also, so kann man es jedenfalls erst mal zusammenfassen.

wenn ich mich konzentriere, kann ich noch mehr ezanrufe hören. je stadtteil eine stimme und istanbul hat eine menge stadtteile. natürlich kann ich nicht alle hören.

die lauteste stimme kommt aus unserem stadtteil bakirköy und die hat mich vermutlich geweckt. mir gefällt es gut. ich fliege mit den stimmen über der stadt umher und schlafe dabei einfach ein.

es ist schon hell im zimmer und noch viel heisser als in der nacht. mir rinnt der schweiss die schläfen runter. draussen hupt es und ich höre viele stimmen. menschen, die sich unterhalten. die taxifahrer aus der taxizentrale gegenüber, die auf stühlen vor ihrem büro, an der strasse sitzen. frauen, die aus ihren fenstern ihre bestellungen dem verkäufer des minimarktes an der ecke, zurufen. (ohne aus dem fenster zu sehen, weiss ich, dass sie ihre flechtkörbe aus dem fenster abseilen, um die bestellten waren entgegen zu nehmen.) strassenverkäufer und altwarenhändler, die in einem mir unverständlichen kauderwelschsingsang, ihre waren anbieten. und dies alles wird untermalt von einem ständigen hupen. kurze huper, die zeigen wer die vorfahrt hat oder die fussgänger warnen sollen, sich schnell wieder von der fahrbahn zu machen oder einfach nur huper aus gewohnheit.

huphuphup.

als wir alle um den grossen tisch sitzen und frühstücken, klingelt es. meine mutter springt auf und geht zur tür. einige sekunden später ruft sie meine tante. sie klingt…ja, irgendwie verzweifelt. meine tante schlurft zur tür, dann höre ich sie reden und ich höre, wie sie sagt : „na dann zeig mal.“ und meine mutter :“aber tante, lass doch.“

von neugier getrieben, gehe ich langsam zur tür. unter dem arm meiner tante, die die tür festhält, schaue ich auf ein elfjähriges mädchen. sie schaut etwas traurig. ihr kleid ist schmutzig. genau wie ihre haare. sie zieht den rock hoch und ihre unterhose runter. was ich da sehe, verstehe ich nicht. ich schaue irritiert in ihr verzweifeltes gesicht. sie ist ein hübsches mädchen mit traurigen augen. aber unter ihrem kleid ist sie ein junge. ich taumele zurück und höre noch, wie meine mutter und meine tante ihr geld geben. sie sagt, sie spare für die operation und bedankt sich leise.

in eberbach hatte ich im letzten sommer eine dicke raupe gefunden, in unserem garten. meine eltern hatten mir erlaubt, sie zu behalten. dabei hatten sie sich belustigt angelächelt.

ich legte die raupe auf den esstisch auf ein grosses salatblatt, bevor ich ins bett ging. Am nächsten morgen war sie verschwunden. Wütend hatte ich meine eltern angesehen, die mich angrinsten. mein vater hatte auf die gardine gedeutet. ich hatte hochgesehen und da sass ein schmetterling. an seine farbe kann ich mich nicht mehr erinnern aber ich glaube, sie war so gelb wie der löwenzahn, der sich in eine pusteblume verwandelt. und genauso hatte sich meine raupe in einen schmetterling verwandelt.

und so wird sich dieses mädchen in ein richtiges mädchen verwandeln“, sagte mein vater. Irgendwie freue ich mich für sie.

draussen bestellte eine frau ein brot, einen eimer joghurt und ein halbes kilo salz und dann sauste ein korb nach unten, an unserem fenster vorbei.

Lido

Lido“

Multi-Media-Installation

Kunsthalle Düsseldorf, 2005

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Im Zentrum der Arbeiten von Anny und Sibel Öztürk (Jg. 1970 und 1975) steht das Spiel mit kultureller Identität. Die aus der Türkei stammenden, in Offenbach lebenden Künstlerinnen untersuchen in ihren Arbeiten Einflüsse und Strukturen kultureller Hintergründe, die sich mehr als einer nationalen Kultur, mehr als einem geographischen Ort verdanken. Sie betonen die Vielfalt der Kulturen und zeigen die Vordergründigkeiten stereotyper Projektionen auf. Ihre Arbeiten, Zeichnungen, Objekte, Filme und Installationen haben einen stark erzählerischen Charakter.

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In ihrer Einzelausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle zeigen die Künstlerinnen eine zweiteilige Installation mit dem Titel „Lido“. Eröffnet wird die Ausstellung von einem Komplex von zum Teil mehrteiligen Zeichnungen und Malerei in denen Bild- und Texterzählung einander ergänzen. In verschiedenen Einzelgeschichten berichten die Künstlerinnen von Kindheitserinnerungen, in denen die Geschichten ihrer Eltern von der Türkei zu einer von der gesamten Familie geteilten Gegenwelt zum Alltag in der Bundesrepublik entwickelt werden. Dabei berichten die Eltern im Offenbach der 70er Jahre von einer Türkei aus der Zeit vor ihrer Migration nach Deutschland, das heißt, von einer Türkei der 50er und 60er Jahre. Diese Gegenwelt lässt sich in Ferienaufhalten bei Großeltern und Tanten aufsuchen und entfaltet in all ihrer Andersartigkeit von Wahrnehmungen, Gebräuchen und Gerüchen aber auch anderen sozialen Traditionen und vermittelten Wertevorstellungen, ihre eigene, für die Künstlerinnen prägende Faszination.

Alle Photos: Yun Lee und Achim Kkulies

Alle Photos: Yun Lee und Achim Kkulies

Der Parcours der Zeichnungen führt zu einer Tür, über der ein Leuchtschriftzug „Lido“ prangt und neben der ein Text ein weiteres Erinnerungsszenario eines Ortes beschreibt. In einem ähnlichen Verhältnis in dem sich in den Zeichnungen Bild- und Texterzählung ergänzen, fungiert hier der Text als individueller Erinnerungsbericht zu einem sich den BetrachterInnen hinter der Tür als großräumige Installation entwickeltem Bild. Der in diesem Bild beschriebene Ort ist in den Zeichnungen bereits mit Erinnerungserzählungen eingeführt. Es ist dunkel, warm und riecht nach Sommer. Ein von niedrigen Ballonleuchten im Stil der späten 50er Jahre beleuchteter Weg schlängelt sich durchs Grüne, das mit einigen Büschen und Bäumen bezeichnet wird. An einigen Bänken vorbei führt der Weg zu einem See mit einer Holzplattform an der eine kleine Bar gelegen ist. Über dem Wasser steht der Mond, Zikaden zirpen, fremde Gerüche erfüllen die Luft, Lampions leuchten in frohen Farben und längs der Plattform erscheint die filmische schwarz weiß Projektion einer Jazzband, deren Spiel den soundtrack der Installation bestimmt und die Plattform am See in einen Tanzboden verwandelt.

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Der Text spricht von türkischen Süßspeiselokalen am Wasser, von Eiscreme, Filmprojektionen im Freien, der Hand des Großvaters, vom Kindsein im Sommer. All dies weist den in der Installation beschriebenen Ort als eine freie bildhafte Nacherzählung individueller Erinnerungen aus. Diese Informationen nehmen die BetrachterInnen mit in den Raum hinein und können der Subjektivität dieser Erinnerungen nachspüren. Sie treffen auf die Bezeichnungen einer Vielzahl spezifischer kultureller Determinanten, die einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu markieren scheinen. Doch verliert sich die Installation keineswegs in der Illustrierung von Privatem. In Zitaten und Assoziationen von filmischen Bildern, Szenen etwa aus den Hollywoodfilmen „Roman Holiday“, oder „Houseboat“, die über einen Monitor in die Installation eingespielt werden, erfährt die Gestaltung des Ortes eine Verallgemeinerung. Auch der Titel der Arbeit, „Lido“, verweist auf eine Vielzahl möglicher Orte. Lido, leitet sich vom lateinischen litus, Strand, ab und bezeichnet mehr als nur ein Strandbad in Venedig, sondern fungiert vielmehr als ein leicht antiquierter Inbegriff von Orten der Vergnügungen am Wasser. Für die BetrachterInnen ergibt sich damit eine Offenheit, die einlädt, eigene Assoziationsräume zu erschließen. So bieten die Künstlerinnen in ihrem eigenen Erinnerungsraum Platz für andere Vorstellungen und führen diese Geste in ihrer Arbeit fort. Die Tradition türkischer Gastfreundschaft, den Anny und Sibel Öztürk in ihren Bilderzählungen als einen der wichtigsten Aspekte der von den Eltern vermittelten türkischen Kultur betonen, kommt in der Installation in mehrfacher Hinsicht zum Tragen. Zahlreiche KünstlerInnen sind eingeladen ihre Filme, Performances, Klangarbeiten in der Ausstellung vorzustellen.

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Anlässlich der Finissage, schließlich werden die BesucherInnen von den Künstlerinnen persönlich als Gäste empfangen und mit selbst zubereiteten türkischen Nachspeisespezialitäten und türkischer Live-Musik verwöhnt.

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Lido vermittelt in unterhaltsamer erzählerischer Form ein interessantes Bild eines komplexen Kulturgefüges. Der Blick zurück auf Unvergessenes von Anny und Sibel Öztürk ist weit mehr als ein freundliches Wiederauflebenlassen lauer türkischer Sommerabende im Düsseldorfer Winter. Vielmehr werden hier die Brechungen und Projektionsleistungen beschrieben, die für MigrantInnenkulturen charakteristisch sind. Derartige Brechungen und Projektionen bestimmen jedoch nicht nur den Blick der Künstlerinnen auf das, aus der Gegenwelt innerfamiliären Erinnerns geprägte Bild des türkischen Anteils an der eigenen Identität. Auch von ihrer Außenwelt werden die in der Bundesrepublik aufgewachsenen, lebenden und arbeitenden Schwestern stets mit diesem Identitätsanteil konfrontiert, – nicht selten gänzlich auf ihn festgelegt. In der Rolle als „Gastgeberinnen“ begegnen sie dieser Erwartungshaltung mit familiärem Charme und mit viel Ironie. Mit den Arbeiten der von ihnen eingeladenen KünstlerInnen öffnet sich „Lido“ einer Vielzahl unterschiedlichster Ansätze und Strategien Identitäten zu beschreiben und zu untersuchen.

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Rafael von Uslar