Wallhangings Floorlayings
Großen Raum im Werk der Künstlerinnen nimmt der Umgang mit Erinnerungserzählungen ein, in denen, an Hand der eigenen Familiengeschichte, das Beheimatetsein in mehr als einer Kultur zum großen übergreifenden Leitthema wird.
Die Geschichte, in der sich ein Zusammenhang zwischen den Werken des rumänisch stämmigen Künstlers Constantin Brancusi, einem der bedeutendsten und einflussreichsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts und der Familiengeschichte der Öztürks herstellen lässt, nimmt ihren Anfang in der expansiven Siedlungspolitik des osmanischen Reiches in Osteuropa. Nachdem ihre Familie bereits seit mehreren Generationen in Rumänien gelebt hatte, erarbeitete sich die Urgroßmutter der Künstlerinnen väterlicherseits dort als Gestalterin und Fabrikantin von Teppichen ein beträchtliches Vermögen. 1918 konnte sie ihr Sohn, Großvater Öztürk, aufgrund der politischen Folgen des Ersten Weltkrieges davon überzeugen, mit ihm in die Türkei zurück zu kehren.
1937 erhielt der seit 1904 in Paris beheimatete Brancusi den Auftrag für ein Kriegerdenkmal in Targu Jiu, das der im Ersten Weltkrieg gefallenen rumänischen Soldaten gedenkt. Zu dem dreiteiligen Ensemble, das zu den Hauptwerken des Künstlers zählt, gehört die größte Fassung seiner “Endlosen Säule”, die auch im Teppich der Künstlerinnen eine Zentrale Position einnimmt.
Sieben Jahre nach ihrer Installation Unspeakable Home* machen Anny und Sibel MyBerlinWall mit der Installation Wallhangings Floorlayings zu einem Ort, an dem sich die mütterliche und die väterliche Linie der Familie Öztürk in einer von den Schwestern betriebenen Rezeption der europäischen Moderne treffen. Stand
Unspeakable Home noch klar im Zusammenhang ihrer Installationen, die sich aus “Illustrationen” ihrer familiären Erinnerungsgeschichten verstanden, so gehen sie mit Wallhangings Floorlayings einen neuen, aus ihrem Sammlerkabinett heraus entwickelten Weg. Geschichte und Geschichten werden hier in einer abstrakteren, offeneren Form der Erzählung vermittelt.
Beiden Installationen ist gemeinsam, dass sie sich in ihrer Gestaltung gezielt mit dem Ausstellungsort, einer Wand in einem privaten Interieur, auseinandersetzten. Unspeakable Home erweiterte, unter Berücksichtigung des Grundrisses der Wohnung, das tatsächliche Zuhause unaussprechlicherweise um den Wintergarten von Adolf Hitlers Berghof. Wallhangings Floorlayings nimmt in Gestalt des Teppichs die Form eines Gegenstandes an, der durchaus ein Vorkommen in einem Charlottenburger Haushalt haben könnte. Er greift von der Wand, als Wandteppich, auf den Boden über und wird so für die Dauer der Ausstellung zur realen Auslegeware des Esszimmers, in dem sich die Ausstellungswand von MyBerlinWall befindet.
Für die Bereicherung durch die Immigrantenkulturen ist diese Arbeit von Anny und Sibel Öztürk auf gleich mehreren Ebenen ein hervorragendes Beispiel. Ihr Teppich bedient sich in der künstlerischen Rezeption historischer Kunstwerke bei allen Unterschieden der künstlerischen Sprache, einer ähnlichen erzählerischen Strategie.
Rafael von Uslar