Temporary Imperfect Incomplete

Abfall und Zufall

Anny und Sibel Öztürk: temporary imperfect incomplete in der Galerie Perpetuel

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Anny und Sibel Öztürks temporary imperfect incomplete präsentiert sich als ein Raum, gefüllt mit seltsamen Zwitterwesen aus Möbeln, farbig bemalten Kartons und Hochglanzreklamen, die sich als Architekturmodelle der anderen Art erweisen. Als Ensemble bilden diese eine quasi urbane Bemöbelung des Galerieraumes aus.

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Künstlerische Modellbauprojekte gibt es viele: Von den Architekturutopien in den sechziger Jahren über die Romantik der „Spurensicherung“ und die weitläufigen gebastelten Pathosübungen der achtziger Jahre bis hin zur Wiederentdeckung sozialkritischer und sozialutopischer Untersuchungen im aktuellen Globalisierungslook. temporary imperfect incomplete reiht sich in eine Geschichte der im Namen der Kunst gebastelten Modellarchitekturen ein, knüpft aber auch an eigene Projekte der Künstlerinnen an. So installieren Anny und Sibel seit 2003 selbstgezimmerte Architekturinstallationen nach dem Vorbild eines Gecekondu für verschiedene Ausstellungsräume. Ein Gecekondu ist eine türkische Spezialität und bedeutet: „über Nacht gebaut“ und bezeichnet laut juristischer Definition: „eine Hütte, ohne Genehmigung auf dem Land eines anderen Eigentümers erbaut“. Hat eine solche Hütte binnen 24 Stunden ein Dach über dem Kopf zu bieten und wird bewohnt, so kann sie ohne richterlichen Beschluss nicht abgerissen werden – nicht einmal im Ausstellungsraum!

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2007 reisten Anny und Sibel Öztürk zur Vorbereitung einer Ausstellungsbeteiligung nach Medellin/Kolumbien. Dort beeindruckten sie die Favelas als wahre Gecekondustädte. Einige der dort gemachten Beobachtungen haben Einfluss auf temporary imperfect incomplete genommen und verdienen insofern hier ihre Erwähnung. Da sind zum einen die übergroßformatigen Reklametafeln zu nennen, die das Erscheinungsbild so vieler Elendsviertel in Nord- und Südamerika bestimmen. Inmitten all des Elends, in das sie gepflanzt wurden, wirken die Hochglanzwerbungen für Luxusprodukte auf Außenstehende wie ein größtmöglicher Zynismus. Und doch scheinen sie als glaubhafte Darstellungen wichtiger Versprechen eine Funktion zu erfüllen. In Medellin haben die Behörden alternativen Lebensraum zur alternativen Stadtgestaltung geschaffen: Hochhäuser mit schönen ordentlichen Sozialwohnungen, in die FavelabewohnerInnen umsiedeln sollten. Leider hatte keiner der Stadtplaner bedacht, dass die meisten Familien Tiere halten die ihnen zum Lebensunterhalt unverzichtbare Dienste leisten. Und da weder Pferde, Esel oder sonstige Nutztiere das Leben in Etagenwohnungen höherer Stockwerke zu schätzen wissen, waren die Hochhäuser kein Favelaersatz. Als verblüffende Lichtblicke im engen Verband gering-geschossiger Favelabauten fielen Anny und Sibel einzelne Gebäude auf, die in ihrer Gestaltung ein klares Bekenntnis zur klassischen internationalen Moderne demonstrierten. Moderne geht immer!

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Soviel zum Anekdotischen. Die Favelas von Medillin bilden einen Anregungsausgangspunkt für temporary imperfect incomplete, Thema sind sie nicht. Von Frankfurt aus gesehen sind Favelas ein anderer Ort, ein fremder, vor allem aber ein Ort der Bilder. Man kann die Realitäten, die solche Bilder hervorbringen, mit dem Impetus sozialer Anteilnahme für eigene Darstellungen vermeintlich engagiert, aber in der Sache kenntnislos für sich vereinnahmen. Das bedeutet Anmaßung und endet bestenfalls im Sozialkitsch. Man kann jedoch auch die Bilder als eben das ernst nehmen, was sie sind. Sie zeigen außer sozialen und politischen Zuständen, die kritikwürdig sind, Architekturensemble von höchst eigener Dynamik und Ästhetik.

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Zu sehen ist in temporary imperfect incomplete der freizügige Umgang mit zahlreichen, dem Abbildungsgegenstand unangemessenen Materialien. Architekturmodelle haben eine bessere Provenienz verdient als Sperrmüll, Müslikartons und Ikeaordner! Und eben hier beginnt ein unterhaltsames Spiel. Es handelt von freien Assoziationen und einer Übersetzungsleistung im Anschauungsprozess. So wird zunächst das andere Material sichtbar: Das Möbel, der bemalte Karton, der Klebestreifen und der kreative Zufall. Dies wird übersetzt in das Gemeinte: Vertraute oder denkbare architektonische oder architekturnahe Formen. Damit lässt sich schließlich ein urbanes Ensemble assoziieren aus dem, was aber immer zugleich auch Sperrmüll, Werbung und Kartonage bleibt und darin auch gar nicht übersehen werden soll. Denn in diesem ereignisreichem Zusammenspiel von Abfall und Zufall wird etwas gezeigt, das in dem Freiraum zwischen Assoziation und Übersetzung angesiedelt ist. Das Gezeigte ist das Spiel, die Kreativität im Umgang mit Materialien zum Zweck poetischer Bildfindungen.

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Und weil die Kunst der „Spielfall“ ist, bietet ihre Poesie Raum für subversive Differenz und so handelt temporary imperfect incomplete dann dochvon Favelas und sozialer und politischer Ungleichheit, aber eben so wie Robert Fillious 7 Childlike Uses of Warlike Material vom Krieg handelt.

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Rafael von Uslar