Behind the Wheel – Istanbul

Anny and Sibel Öztürk

The subject of Gastarbeiter creates the crux of Behind the Wheels by Anny and Sibel Öztürk. In the installation Behind the Wheel (2003), the sisters depict the annual trips back to Turkey. The older model Mercedes Benz (or like in Istanbul and in Montenegro another car model) with Offenbach license plate is in the exhibition space, with its rooftop luggage carrier packed with suitcases and a rolled up carpet. The vehicle’s interior is decorated with streamers, doilies, blankets and pillows. One can hear music alongside voices and laughter that remind us of the absent travelers. With maps illustrating the route, drawings (gouaches of moments in the journey), texts on the walls (speaking of longing for the grandfather, the south, the sea), this story tells of the communal experience among the Gastarbeiter, in Germany presenting us a (re)creation of an annual journey between these two countries. Through this work, the Öztürk sisters turn their family trips into a collectively shared experience and memory, and their experience and memory into an art installation.

Although Behind the Wheel might be viewed as a typical work created by the daughters of guest workers, it is an exception as the two sisters Anny and Sibel Öztürk have a rather different (hi)story. Anny was born in 1970 in Istanbul and her sister Sibel in Eberbach am Neckar in 1975. As Anny and Sibel recall:

Our parents left for Germany in 1972. Their decision was made more from a desire for adventure, wanderlust. Both journalists, well off and with one child, they set off to see the world. They did not go to make money. They went to experience something new [16].

Both sisters grew up in Germany and studied at the Städelschule in Frankfurt. When Anny is asked of how being born in Istanbul and spending most of her life in Germany has influenced her art, she responds:

My home is in more than one culture, this fact is reality for a huge amount of Europeans and by no means an exception. This has a big influence on my work and on the collaboration with my sister Sibel. Many of our works are based on memories. Most of them refer to shared familiar memories. Therefore we have reference fields whose character differentiates in a cultural context, Germany and Turkey. Both are inextricably linked with each other [17].

What the sisters do on a personal level is to record and present their memories and subjective experiences which constitute the basis of the work, and on a general level, the work connects simultaneously with the artistic and non-artistic communities in-and-between these countries, as this is a vision commonly experienced during the summer holidays. Behind the Wheel takes the actual mobility of the Gastarbeiter, folds and presents it back to us. The cliché of the Gastarbeiter family; an image of the Turkish worker and his family going back to the ‘motherland’ is in front of our eyes. The Öztürk sisters give an artistic visibility to this journey and its participants although they are physically absent. But where does Turkey stand for these artists? How do they ‘fold’ Turkey into/with Germany? Anny Öztürk responds:

Our connection to Turkey is strong… in our hearts. The language I use when thinking, dreaming, and speaking is German. My Turkish is more of a foreign language. I always want to live in Germany, but I want to be buried in Turkey with my ancestors, with my family [17].

Through their work, we can see how migrants transform geographic and cultural boundaries, how such ‘travels’ potentially change and challenge presupposed understandings of identity.

Behind the Wheel

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Anny Öztürk, die noch in Istanbul zur Welt kam, und ihre Schwester Sibel Öztürk, geboren  in Eberbach/Neckar, gehören der zweiten Generation türkischer Migranten an und haben an der Frankfurter Städelschule studiert.
Sie beschäftigen sich intensiv mit der Konstruktion von Erinnerung und mit Räumen, in denen sich Erinnerung abzeichnet. Dabei geht es nicht darum, originäre Erlebnisse und Bilder abzurufen, sondern diese retrospektiv zu erneuern und zu kontextualisieren. Die Erinnerungsform ist stets eine rückblickende, der Ausgangspunkt aber ist die Gegenwart der Künstlerinnen. Bei den Öztürks ist das Erinnern und das damit verbundene Produzieren von Bildern und Texten Bestandteil ihrer künstlerischen Verfahrensweise. Ausgangspunkt für viele ihrer Arbeiten ist die eigene Kinderzeit, Erfahrungen, die sie und ihr Aufwachsen prägten.
Im Zentrum ihrer Installation Behind the Wheel beispielsweise steht ein historischer weißer Mercedes, der mit Koffern und Teppich beladen ist. Das Kennzeichen OF – X 409 verortet den Wagen im hessischen Offenbach, wo die Öztürk-Schwestern aufwuchsen.
Von dort ging es alljährlich im Sommer in die Türkei, und die tagelange Autofahrt führte die Familie durch osteuropäische Länder wie Jugoslawien, Bulgarien, Österreich, Italien, Griechenland und auch mal Rumänien. Diese Reiseroute dokumentieren die Öztürks auf mehreren Landkarten und verbinden einzelne Stationen dieser Fahrt mit Erinnerungsbildern. In diesen kolorierten Zeichnungen, die auf eigenen Familienfotografien beruhen, visualisieren Öztürks kleine Szenen. Handgeschriebene Texte erläutern die Bilder, breiten aber auch ein Narrativ aus, das scheinbar auf erlebter Erinnerung basiert und einen tagebuchähnlichen Charakter evoziert. Da die Bilder jedoch stets formelhaft und reduziert wirken, die Personen mehr als Typen denn als Individuen ins Bild treten, wird von der subjektiven Erinnerung abstrahiert und es bleibt Platz für eigene Projektionen.
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Öztürks verarbeiten in ihren Zeichnungen Ausschnitte aus einer Kindheit, die von einer nicht-deutschen Herkunft geprägt ist, sie beschreiben einen Zustand, der ihre Sozialisation bestimmte. Nur während der Sommermonate lebten die beiden bei Großeltern und Tanten und waren mit anderen Gebräuchen und Traditionen konfrontiert. Diese Erfahrung teilen sie mit vielen anderen Migrantenkindern, die Jahr für Jahr in das Herkunftsland der Elterngeneration fuhren und dort nur einen Ausschnitt einer sogenannten Heimat erlebten.
Burcu Dogramaci

Jolie Charité

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Jolie Charité (2007)

Auf einer Wand findet sich ein aus einzelnen Leuchtbuchstaben gebildeter Schriftzug. Daneben hängt links eine Zeichnung mit Textzusatz und rechts eine Reihe von Photographien. Vor der Wand, frei im Raum, befindet sich ein thekenartiges Möbel, auf dem Informationsmaterial zum Projekt „Jolie Charité“ ausliegt.
Jeder einzelne Buchstabe steht zusammen mit einer Zeichnung zum Verkauf. Mit dem Erwerb des Kunstwerkes geht die Übernahme einer einjährigen Patenschaft für ein Kind bei SOS-KInderdorf oder eine Projektpatenschaft bei Unicef einher. Photographien der im privaten Bereich der SammlerInnen installierten Buchstaben ergänzen die Installation.

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Jolie Charité besteht aus zwei Installationen, die unabhängig voneinander gezeigt werden. Einmal wird mit demSchriftzug aus farbigen Leuchtbuchstaben auf weißer Wand der Name der legendären amerikanischen Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin Josephine Baker ausgeschrieben, und einmal der Name der amerikanischen Filmschauspielerin Angelina Jolie.

Jeder einzelne Buchstabe hat seine eigene Stromzufuhr und ein deutlich sichtbares längeres Kabel mit eigenem Stecker. Eine Vielzahl von Mehrfachsteckern
am Boden bündeln die Kabel und ermöglichen, dass der Namenszug an der Wand leuchtend erstrahlen kann.
Den mehrfarbig gestalteten Namenszug gibt es für zukünftige Fassungen dieser Installation in verschiedenen Farbfassungen. Im Raum befindet sich ein thekenartiges Möbel, das sich durch Schlichtheit und gestalterische Klarheit auszeichnet. Auf dieser Theke befinden sich von den Künstlerinnen gestaltete Informationsbroschüren,
die über das Projekt „Jolie Charité“ und sein Anliegen informieren, sowie Material der Organisationen UNICEF und SOS-Kinderdorf.
Neben Schriftzug und Theke hängt je eine Zeichnung, die motivisch und mit Text in das Projekt einführt. Daneben sind einige Photos an der Wand angebracht.

Die Zeichnung Jospehine Baker

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Die Zeichnung nimmt ein Photo zur Vorlage, auf dem Josephine Baker mit all ihren Kindern versammelt zu sehen ist. Gemeinsam pusten sie die Kerzen auf einer Geburtstagstorte aus, wer genau Geburtstag hat zu diesem Anlass ist nicht zu erkennen, denn alle Kinder gemeinsam sind Protagonisten dieses Anlasses. Die Zeichnung hat
den Textzusatz: Ich selbst kannte sie lange Zeit nur als „die Tänzerin mit dem gelben Bananenröckchen“.
Josephine Baker adoptierte 12 Kinder verschiedener Hautfarben und Ethnien, damit protestierte sie auf ihre Art gegen den Rassismus. Oh, jolie Charitè!
Josephine Baker starb 1975 nach einem sensationellen Come-Back. Im Jahr 1975 war Anny Öztürk fünf Jahre alt und Sibel Öztürk wurde geboren. Für die Künstlerinnen ergibt sich folgerichtig die ihrer Zeitgenossenschaft entsprechende Rezeption der Ereignisse, die eine Nachfolge vor dem Vorbild sichtbar werden lässt. Das heißt: Die im Hier und Jetzt agierende Angelina Jolie lenkt den Blick zurück auf ihr historisches Vorbild.

Die Zeichnung Angelina Jolie

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Das aquarellierte Blatt zeigt das amerikanische Schauspielerehepaar Brad Pitt und Angelina Jolie mit ihrer aus Äthopien stammenden Adoptivtocher Zahara und ihrem aus Kambodscha stammenden Adoptivsohn Maddox.
Die multikulturelle Familie hat sich in ihrer Küche und um eine frei im Raum installierte Spüle versammelt. Vor dem Paar steht ein Teller mit Obst, von denen Pitt isst. Jolie hält den Mund geöffnet, wie um zu einem breiten Lächeln oder einem Lachen anzusetzen. Der momenthafte Eindruck der Szenerie verstärkt den Charakter des Privaten. Zugleich jedoch wirken die Haltungen der Dargestellten wie Posen, was die Situation eher als Teil einer
offiziellen „Home-Story“ erscheinen lässt. Hinter der Familie gibt eine offene Tür den Blick auf einen Flur und weitere Zimmer frei. Links neben den Personen hängt an der Wand ein mit einem frei über die Wand geführten schwarzen Kabel, als Leuchtmittel gekennzeichnetes rotes Objekt in der Form eines accent agui. Unter der Zeichnung findet sich ein Textzusatz:
„Mir gefällt die Idee, das accent aigu von der Berliner Charité zu entwenden. Ich würde es Angelina Jolie schenken. Sie soll es in ihre Küche hängen und als Wandleuchte nutzen, wenn sie mit ihrer bunt gewürfelten Familie Zuhause kocht. Das accent aigu sollte so zu ihrem Leben gehören, wie ein weiteres adoptiertes Kind etwa.“

Das Projekt
Die einzelnen Buchstaben des Schriftzuges der Installation stehen zum Verkauf. Jeder erworbene Buchstabe wird mit einer Zeichnung begleitet, einem Original in Serie, die mit der in der Installation gezeigten Zeichnung identisch ist. Zusammen mit dem Leuchtbuchstaben und der Zeichnung wird „automatisch“ eine im Verkaufspreis
inbegriffene einjährige SOS-Kinderdorf für ein Kind oder eine Unicef Projektpatenschaft übernommen.
Die geneigten SammlerInnen sind aufgefordert, die erworbenen Buchstaben zusammen mit der Zeichnung im eigenen Heim zu installieren und den Leuchtbuchstaben als Lampe zu benutzen. Dabei wäre es wünschenswert, würden die Leuchtkörper im Bereich des alltäglichen Umfelds platziert und aufgenommen.

Die Photographien

Die solchermassen im privaten Umfeld integrierten Buchstabenlampen werden, bevorzugtermassen mit den ins Bild gerückten SammlerInnen, von den Künstlerinnen dokumentiert. Diese Photos werden zu einem Bestandteil der Installation im Museum.

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Die solchermassen im privaten Umfeld integrierten Buchstabenlampen werden, bevorzugtermassen mit den ins Bild gerückten SammlerInnen, von den Künstlerinnen dokumentiert. Diese Photos werden zu einem Bestandteil der Installation im Museum.

Jospehine Baker und Angelina Jolie

Die legendäre amerikanische Künstlerin Josephine Baker war eine der bedeutendsten Entertainerinnen ihrer Zeit.
Sie war eine Vorreiterin im Kampf gegen Rassentrennung und Rassismus, Mitglied der Restistance und sprach als einzige Frau bei Martin Luther Kings Marsch auf Washington. Für ihr politisches Engagement wurde sie mit zwei der höchsten politischen Auszeichnungen Frankreichs geehrt, dem Croix de Guerre und der Mitgliedschaft in
der Légion d`Honneur. Seit 1950 startete sie ihr eigenes, privates „Experiment der Brüderlichkeit“, indem sie eine Familie gründete und seit 1950 12 Kinder unterschiedlicher nationaler, ethnischer und religiöser Herkunft adoptierte. Diese Familie bezeichnete sie als „The Rainbow tribe“ und verstand ihr Familienleben als ein wegweisendes politisches, kulturelles und soziales Vorbild.
Diesem großen und überaus beeindruckenden Vorbild folgt die amerikanische Filmschauspielerin Angelina Jolie seit einigen Jahren mit dem Konzept, über Adoptionen eine große multikulturelle Familie aufzubauen. Seit ihrer Ehe mit Brad Pitt wird diese Familie auch um eigene Kinder ergänzt. Auch Jolie spricht so folgerichtig von ihrer
„Regenbogenfamilie“. Angelina Jolie und Bratt Pitt stellen ihre große internationale Bekanntheit und Popularität in den Dienst internationaler politischer und sozialer Arbeit. Angelina Jolie ist seit 2001 „Botschafterin der guten Hoffnung“ des United Nations High Commissioner for Refugees; eine Aufgabe, die sie mit großem Engagement wahrnimmt und für die sie 2005 mit dem „Global Humanitarian Action Award“ ausgezeichnet wurde. Jolie ist außerdem Unicef-Botschafterin. Gemeinsam mit ihrem Mann unterstützt sie zahlreiche internationale Hilfsprojekte und globale Interessengruppen.
Beide Frauen eint der Wille, außerhalb des öffentlichen Engagements für ihre politischen und sozialen Überzeugungen auch das Familienleben als eine Frage des politischen und sozialen Engagements dann dochbedingt öffentlich und multikulturell mit klarer politischer Signalwirkung zu gestalten.

„Jolie Charité“

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Die Installation nimmt das vorbildliche Beispiel sozialen Handelns der beiden Frauen Josephine Baker und Angelina Jolie symbolisch auf und verpflichtet spielerisch und mit Humor die Sammler/innen zu einer Teilnahme.
Im Zusammenspiel mit der über das Kunstwerk im Projekt vermittelten Patenschaft geht es hier um mehr als um den Erwerb einer weiteren künstlerischen Arbeit. Ein Erwerb bedeutet eine Teilnahme an dem Projekt „Jolie Charité“. Es wäre wünschenswert, würden die Sammler/innen vor diesem Hintergrund ein Leben mit den Leuchtbuchstaben gleichsam als „Adoption“ des Objektes in die eigenen Lebenszusammenhänge begreifen.
So legt das Projekt „Jolie Charité“ eine Nachahmung des leuchtenden Beispiels von Josephine Baker und Angelina Jolie nahe, auch wenn die Sammler/innen im Gegensatz zu diesen beiden Frauen in ihrem Zuhause nicht ein Kind, sondern vielmehr eine Lampe aufnehmen. Diesen Lampen jedoch ist ein in jeder Hinsicht erhellendes Wirken zu wünschen!

Rafael von Uslar

Nö-Performance

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nö-performance - Kopie

Anny und Sibel Öztürk treffen sich auf einer grünen Wiese und machen dass, was türkisch-stämmige Mitbürgerinnen im öffentlichen Berliner Grün gerne und stets gekonnt tun: Sie picknicken. Zwischen den Schwestern gibt es eine mehr als augenfällige Rollenverteilung. Beide repräsentieren je einen dominierenden türkischen Frauentypos. Da ist zum einen die verkopftuchte, ganzkörperverschleierte Integrationsresignationserscheinung. Zum anderen gibt es den extrem aufgetunedten, jedoch gänzlich bieder restriktiv-klemmigen Vamp.

Und was machen zwei türkische Frauengestalten, die im Berliner Grün sich picknickend öffentlich verbreiten? Richtig: Sie rezipieren Joseph Beuys!

Die Damen bestreiten ihre ausschließliche Kommunikation in der modifizierenden Aufführung einer Beuys/Stüttgen/Christiansen Performance an der Düsseldorfer Kunstakademie, unsterblich geworden durch die von Christiansen besorgte Aufzeichnung: Jajajaja, neeneenneenneennee. Im Vortrag wechseln sich die Schwestern, dem historischen Vorbild der Performance entsprechend, in den Akten der Bejahung und der Verneinung ab. Das Nee wird dabei durch das emphatischere Nö ersetzt.

Die Performance richtet sich an zwei Adressaten und bedient diese sowohl gleichzeitig wie auch höchst unterschiedlich. Das Klischee des bipolaren türkisch-bundesrepublikanisch etablierten Frauenbildes existiert sowohl für die (Paralell-)Gesellschaft der MigrantInnen, wie auch für die restliche bundesrepublikanische Öffentlichkeit.

Den gesellschafts-kulturell-strategisch gleichermaßen in Bestätigungs- wie Verneinungsritualen verhafteten MigrantInnengemeinschaften zieht dieser einfache Kunstgriff gleichermaßen die wohlbehauptete Picknickdecke unter den Füssen weg.

Der bundesrepublikanischen Restgemeinschaft wird das Klischeedenken und das eigene Unbehagen dokumentiert. Hier darf jedes Nönönö auf Szenenapplaus hoffen! Und meint bei längerem Nachdenken dann doch immer auch „sich selbst“ (Jenen schönen eingestempelten Beitrag zu dem handschriftlichen Textauftrag „wer nicht denken will fliegt raus“, den die als Karteikarte gestaltete Postkarte von 1977 von Joseph Beuys verbreitet.)

Abwehr im Innen- wie im Außenverhältnis. Gezeigt werden dabei letztendlich die, die keine besondere Sichtbarkeit in der deutschen Gesellschaft haben. All jene, die nach drei Generationen Immigration trotz politisch erklärtermaßen verweigerter Integrationspolitik in dieser, der Gesellschaft der Bundesrepublik ihr kultürlich-normales Vorkommen haben, für die diese Beuyssche Performance die grundsätzliche Polarität von Bestätigung und Verneinung benennt, die so grundlegend ist für Europäisches Kulturverständnis.

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Es ist ein einfaches aber in vielfacher Hinsicht hintergründiges Spiel, dass die zwei Frauen auf ihrer Picknickdecke in Berlin treiben. Nun hält das Picknick in seiner liebevollen Eindeutschung – und darum geht es ja auch irgendwie… – immer schon das Nicken parat. Eindrücklich ist an der Beuysschen Idee, dass sich immer, sowohl die Bejahung, als auch die Verneinung stets selbst bestätigen. Und so gibt sich hier Recht, was das eigne Recht sinnstiftend hinterfragt.

Rafael von Uslar

Mehr Licht!

Anny und Sibel Öztürk  

Round-Point-Schuman, Brüssel, Belgien im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft, 2007
Mehr Licht

Eine temporäre Lichtinstallation für den Place Schuman, Brüssel

Photo: Yvan Glavie

Photo: Yvan Glavie

Das Projekt
Der Place Schuman ist ein von starkem Verkehr frequentierter Platz. Dieser Verkehr bestimmt im Wesentlichen das Leben und die Bewegungen auf dem Platz und sorgt tagsüber für eine konstante, sich stets in dynamischem Fluss befindliche Geräuschkulisse. Dieses akustische Platzgeschehen erfährt mit der Installation „Mehr Licht“ eine visuelle Übertragung: Klang wird in Licht übersetzt.
Im Grüngürtel des Platzes wird eine Stahlkonstruktion aufgestellt, die in einer Höhe von etwa drei bis vier Metern ein Band von vertikal nebeneinander angeordneten Lichtröhren hält. Die Installation folgt der Bogenform des Platzrundes und umschließt diesen. Die Konstruktion ist offen und hält die Röhren so, dass sie vom Straßenraum, wie auch vom Platzinneren her gleichermaßen gesehen werden können.
Die Lichtröhren präsentieren ein in seiner Gestaltung auf das Platzgeschehen reagierendes Farbund Formenspiel. Vermittels einer zentralen Computersteuerung und mit Hilfe von auf den Verkehr ausgerichteten Mikrophonen, korrespondiert die Lichtregie mit dem akustischen Geschehen, das den Platz umschließt. Je intensiver und dynamischer diese Klanggestaltung ausfällt, desto farbenreicher wird das Lichtspektrum und desto schneller vollzieht sich sein Wechsel.
Vom Platzinneren her können Passanten mit Hilfe eines im Platz installierten ’touch-pads’ Lichtsignale auslösen. Den vom Platzaußenraum oder Platzinnenraum ausgesandten Signalen werden unterschiedliche Farben und Formprogramme zugewiesen, sodass sich die Herkunft der Lichtsignale
leicht bestimmen lässt.
Als Lichtröhren kommen LED-Röhren zum Einsatz. Diese ansteuerbaren Lichtröhren sind ein besonderer Blickfang. Wechselnde Farben und dynamische visuelle Effekte werden über die Röhren verteilt. Das Steuergerät gewährleistet weiches Licht, eine breite Farbpalette, schnelle Reaktionsfähigkeit
und fließende Farben.
Die Installation „Mehr Licht“ bezeichnet zwei Räume, den Straßenraum und den Platzinnenraum. Sie grenzt diese gegeneinander ab und bringt sie in einem interaktiven Kommunikationsprozess über Lichtsignale miteinander in Verbindung. Über diese Licht- Farb- und Formenspiele werden dieser
Dialog und die den Platz bestimmende urbane Dynamik über eine Übertragung in visuelle Zeichen optisch nachvollziehbar. Auf diese Weise vermitteln sie sich auch dem Blick aus den umliegenden Gebäuden heraus.
Lästiger Straßenlärm wird in Licht- und Musterstrukturen übersetzt. Er erfährt darin seine Sichtbarmachung wie auch seine Übertragung in ein positives Phänomen.

Der Ort
Der Place Schuman ist ein für Europa wichtiger Platz. Hier ist neben dem Europäischen Rat im „Justus-Lipsius-Gebäude“ auch der Sitz der Kommissionspräsidenten und Kommissare im „Berlaymont“.
Der Platz bildet ein Kreisrund zwischen diesen und einer Reihe anderer Gebäude. Aus verschiedenen Himmelsrichtungen laufen Straßen in klar überschaubaren Achsen auf den Platz zu.

Photo: Yvan Glavie

Photo: Yvan Glavie

Die Ausrichtung der Installation
Die Installation ist auf drei Ausrichtungen hin konzipiert.
A. Der Straßenraum
Auf der Straßenebene zeigt sich die Installation den Autofahrern bereits von Ferne. Nähert man sich auf einer der sternförmig auf den Place Schuman zulaufenden Straßen, so wird man aus einiger Entfernung das bewegte Lichterspiel wahrnehmen und damit auch den Platz selbst. Indem die Installation
sich auf den vorbeiziehenden Verkehr ausrichtet und diesen als Kommunikationspartner annimmt, präsentiert sich „Mehr Licht“ als wahre ’drive by art’. Den Autofahrern wird mehr geboten als nur farbenfrohe Lichteffekte, vielmehr wird ihnen die Konsequenz ihres Handelns aufgezeigt. Der von ihnen
verursachte Lärm, den sie anders als jede andere Person im öffentlichen Raum, geräuschgeschützt im Inneren ihres Fahrzeuges nicht wahrnehmen muss, wird ihnen in Lichtzeichen übersetzt vor Augen geführt. Diese Sichtbarmachung geschieht mit sehr einfachen Mitteln, auf eine heitere und freundliche Art. Dabei wird auch der kurzen Wahrnehmungsspanne der vorbeifahrenden Autofahrer Rechnung getragen. Die Botschaft nimmt eine abstrakte Form an und kann in eben diesem Verzicht auf Komplexität an Klarheit und Deutlichkeit gewinnen.
B. Das Platzinnere
Im Platzinneren erhebt sich die Installation als den Platzinnenraum geschlossen nach Außen begrenzende Form. Darin vermittelt sie erstmals zwischen der Platzfläche einen bedingten Raum, der von den umliegenden Gebäuden bestimmt wird. Die Besucher auf dem Platz erhalten Gelegenheit, aus der Passivität ihres Schweigens dem Verkehrslärm gegenüber herauszutreten und über Lichtzeichen mit diesem in einen Dialog zu treten. Das Computerprogramm der Installation sieht eine Bevorzugung der vom Platzinneren ausgesandten Signale vor. Ihnen werden außerdem eigene Farben-
und Musterstrukturen zugewiesen. Dies erleichtert eine Unterscheidung der Signale und ihres Ausgangspunktes. Hier können also endlich die vom Lärm bestimmten Passanten eine leuchtende Stimme über den scheinbar übermächtigen Straßenverkehr erheben.

Doch der Straßenverkehr ist nicht der einzige mögliche Adressat der ausgesandten Zeichen. Auch die umliegenden Gebäude und die sich in ihnen aufhaltenden Personen sind Empfänger der vom Platz ausgestrahlten Lichtsignale. Und welche Botschaften auch ansonsten von diesem Platz aus
an die Menschen in den Gebäuden ausgesandt werden mögen, hier werden freundlicherweise Licht, Farben und Formen auf die Reise geschickt.
C. Der Fensterblick
Der Blick aus einem der Fenster der umliegenden Gebäude auf den Platz markiert eine weitere wichtige Position, auf die hin sich die Installation ausrichtet. Zugleich jedoch ermöglicht der Fensterblick die einzigartige Zusammenschau der Vorgänge, Bewegungen und Signale um den und auf dem
Platz. Hier lässt sich der bunte „Widerstreit“ zwischen Passanten und Autofahrern ebenso beobachten wie das bildhaft übersetzte Pulsieren urbanen Lebens.

Photo: Yvan Glavie

Photo: Yvan Glavie

Das Lichtspiel
Die Installation erzeugt eine durch Licht animierte Endlosbegleitung des Platz-geschehens. Die Röhren werden so angebracht, dass sie im Innenraum, im Außenraum und aus den umliegenden Gebäuden gleichermaßen gut zu sehen sind.
Die LED-Röhren erlauben die Herstellung eines farben- und formenreichen Bildprogramms. Auslöser oder Impulsgeber sind zum Straßenverlauf hin installierte Mikrophone und ein oder mehrere ’touch pads’ auf dem Platz. Diese Impulse werden an einen Computer weitergeleitet, der darauf mit
vorbereiteten Programmen reagiert. Den unterschiedlichen Quellen der Impulse lassen sich unterschiedliche Farben und Formenprogramme zuordnen. Es lassen sich ebenso unabhängig von allen akustischen Impulsen festgelegte Programme einspielen.
Bei abnehmendem Geräuschpegel, zum Beispiel in den Abendstunden, wird die Empfindlichkeit der Mikrophone leicht erhöht, so dass schon ein einzelnes vorbeifahrendes Auto ein eigenes Lichtereignis auslösen kann. Ansonsten bietet die Skulptur im Ruhezustand ein ausgewogen harmonischesLicht- und Farbenprogramm.
Der formale Charakter der Installation
1963 montierte der amerikanische Künstler Dan Flavin eine genormte Leuchtstoffröhre in einem 45 Winkel an die Wand seines Ateliers und erklärte sie als „Diagonale (für Constanin Brancusi)“ zum eigenständigen Kunstobjekt. In seinen fortan auf dem Einsatz von genormten Neonröhren basierenden
Objekten und Installationen ist das ausstrahlende Licht der wichtigste formale Aspekt der Arbeit, wichtig ist aber auch – neben der räumlichen Intervention – der formale, ins skulpturale erhobene Charakter des Trägerkorpus der Neonröhren.

Der Blick auf die Arbeit des uneingeschränkten Großmeisters der Leuchtstoffröhre ist deshalb interessant, weil er hilft, einen sehr wesentlichen Aspekt der Installation „Mehr Licht“ deutlich zu machen.
Bei „Mehr Licht“ spielt das Trägermedium, der Aufbau aus Stahlträgern und Seilen eine völlig sekundäre, nahezu unwichtige Rolle. Dieser Aufbau ist vielmehr das, was ermöglicht, den Ring aus Leuchtstoffröhren auf dem Platz in einer bestimmten Höhe zur Anschauung zu bringen. Der Aufbau
ist auf das statisch Nötigste reduziert und wird ohne jeden besonderen ästhetischen Anspruch ausgeführt, er hat einen rein funktionalen Anspruch und stellt keinen eigenen Anschauungsgegenstand von Bedeutung dar. Das uneingeschränkte Interesse gilt der mithilfe der Röhren geschaffenen Lichterscheinungen, den Farbeffekten und den mit ihnen geschaffenen Musterstrukturen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Arbeit ist ihr temporärer Charakter. Wie ihr Aufbau deutlich macht, verzichtet sie bewusst auf die Ausbildung skulpturaler Werte außerhalb der Lichterscheinungen. So unterscheidet sich diese Installation von vergleichbaren Werken, von bekannten Lichtskulpturen der Kunstgeschichte. Denn es handelt sich bei „Mehr Licht“ keinesfalls um eine Skulptur, die auf dem Place Schuman zu einer temporären Ausstellung kommt, sondern vielmehr um eine für den Platz entwickelte Lichtinszenierung auf Zeit, bei der ein Ereignischarakter deutlich im Vordergrund steht.
Damit nimmt die Installation historisch gesehen eine Nähe zu Festarchitekturen und Inszenierungen auf. Dieser aufs Temporäre besonne Charakter der Installation reflektiert auf den Anlass ihrer Aufstellung, die halbjährige deutsche EU Ratspräsidentschaft.
Der Titel
Dem Augenzeugenbericht des Friedrich von Müller zufolge sollen „Mehr Licht“ die letzten Worte des Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe gewesen sein. Als dieser am 22. März des Jahres 1832 in seinem Sessel sitzend starb, seien seine Letzten Worte gewesen: „Macht doch den zweiten Fensterladen
auf, damit mehr Licht hereinkomme!“ Für die Nachwelt hat sich der Ausspruch etabliert als ein ebenso einfaches, wie bedeutungsschwangeres: „Mehr Licht!“ Seit Müllers Bericht haben sich eine Unzahl von Interpretationen und Kommentaren mit diesem Ausspruch befasst. Dabei ist durchaus strittig, ob es sich hier um ein transzendentales Erlebnis in Todesnähe, eine späte philosophische Eingebung, oder etwa ein Goethes medizinischer Kondition geschuldeter Ausdruck von Unwohlsein handelt. Andere Autoren schließlich stellen Ausspruch und Überlieferung in Frage, da die Worte Goethes ganz anders gelautet hätten. In jedem Fall hatte und hat die Welt, was sie ganz offensichtlich braucht, die ’famous last words’ einer Geistesgröße.
Die Installation am Place Schuman schafft eins mit Sicherheit: mehr Licht! Die Bezugnahme auf Goethe lässt sich hier als Tribut an den bedeutenden Dichter verstehen. Aber er ist auch ein ironischer Kommentar zu der Art und Weise, wie gern sich nationales Kulturbewusstsein im „Land der
Dichter und Denker“ auch heute noch mit dieser Person identifizieren lässt.

Photo: Yvan Glavie

Photo: Yvan Glavie

 

Zusammenfassung
Die Installation leistet die Sichtbarmachung von urbaner Energie. Sie zeigt den dynamischen „Herzschlag“ und die in den „Verkehrsadern“ pulsierenden menschlichen Bewegungen als farbenfrohes, strahlendes Ereignis. Das eigentliche visuelle Ereignis wird dabei von den diesen Platz frequentierenden
Menschen geschaffen. Dabei wird das Licht-, Farb- und Formenereignis zu einem Abbild, einem Seismographen ihrer Mobilität und der Place Schuhmann erhält gerade aus dem heraus, was ihn bisweilen unattraktiv erscheinen lassen kann – Verkehr und davon erzeugter Straßenlärm – eine
neue positive Gestalt. Vielmehr noch wird der in Licht und Farbe übersetzte lästige Lärm Ausgangspunkt für einen ungewöhnlichen innerstädtischen Dialog, bei dem sich die unterschiedlichen, allesamt im öffentlichen Raum begegnenden Verkehrsteilnehmer, Signale zukommen lassen können.
Mit seiner Ausrichtung auf sämtliche räumliche Ebenen des Platzes, bringt „Mehr Licht“ den Place Schuman als einen zusammenhängenden städtischen Raum ins Blickfeld. Es bleibt zu hoffen, dass dem solchermaßen ins Licht gerückten Platz mehr Beachtung zukommt, gepaart mit der Einsicht,
dass ein solcher Ort als wichtiger öffentlicher Raum durchaus mehr gestalterische Aufmerksamkeit verdient.
In ihrer Gestaltung als temporäre Installation trägt „Mehr Licht“ dem Anlass ihrer Entstehung als Beitrag zur zeitlich begrenzten deutschen EU Ratspräsidentschaft Rechnung. Und als fulminantes Lichtereignis sendet die Installation hierdurch – mit kritischem Unterton und in keinem ihrer Aspekte ohne Ironie – farbenfrohe Lichtsignale an Europa.
Rafael von Uslar